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Die Schnapsstadt

Die Schnapsstadt

Titel: Die Schnapsstadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Yan
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rote Armbinde um den Bizeps – zeigte mit dem Elektroschocker auf Ding Gou'er und fragte in feindseligem Ton:
    «Was zum Teufel willst du hier?»
    «Ich bin Lastwagenfahrer», antwortete Ding Gou'er und hob seinen Blecheimer, als könne der etwas beweisen.
    «Ein Lastwagenfahrer?», fragte der Anführer argwöhnisch. «Und was hast du hier zu suchen?»
    «Wasser. Mein Kühler kocht.»
    Die Spannung ließ erheblich nach. Ein paar Elektroschocker wurden gesenkt.
    «Das ist kein Lastwagenfahrer», rief der gedemütigte Pförtner. «Dieser Typ weiß seine Fäuste und seine Füße zu benutzen.»
    «Das zeigt doch nur, was für eine Flasche du bist», antwortete Ding Gou'er.
    «Für wen fährst du?», setzte der Mann mit der Armbinde das Verhör fort.
    Ding Gou'er erinnerte sich an die Aufschrift auf der Wagentür. «Für die Brauereihochschule», antwortete er, ohne zu zögern.
    «Wohin fährst du?»
    «Zur Zeche.»
    «Deine Papiere?»
    «In meiner Jackentasche.»
    «Wo ist deine Jacke?»
    «Im Wagen.»
    «Und wo ist der Wagen?»
    «Auf der Straße.»
    «Ist sonst noch jemand im Wagen?»
    «Eine attraktive junge Frau.»
    Der Mann mit der Armbinde kicherte. «Ihr Fahrer von der Brauereihochschule seid doch alle geile Böcke.»
    «Jawohl, wir sind geile Böcke.»
    «Also los. Beweg dich!», sagte der Mann mit der Armbinde. «Wasser gibt es da drinnen. Was trödelst du hier rum?»
    Ding Gou'er folgte der Wachmannschaft in das Gebäude. Von hinten konnte er hören, wie der Mann mit der Armbinde den Pförtner zur Schnecke machte: «Du Vollidiot von einem Trottel. Kannst du nicht einmal mit einem einfachen Lastwagenfahrer fertig werden? Wenn die vierzig Räuber jemals hier auftauchten, würden sie dir vermutlich die Eier klauen.»
    Als er im Inneren des Gebäudes in das blendende Licht sah, wurde es Ding Gou'er schwindlig. Seine Füße versanken in den weichen Falten eines scharlachroten Teppichs aus feinster Lammwolle. An den Wänden hingen farbige Fotos von landwirtschaftlichen Erzeugnissen: Mais, Reis, Hirse, Kaffernhirse und ein paar Getreidearten, die er noch nie gesehen hatte. Ding Gou'er nahm an, dass es sich um Hybridgetreide handelte, das die Gentechniker des Instituts entwickelt hatten. Der Mann mit der Armbinde wurde allmählich freundlicher und zeigte Ding Gou'er den Weg zur Toilette, wo er seinen Eimer aus einem Wasserhahn füllen konnte, an dem sonst Putzlumpen ausgewaschen wurden. Ding Gou'er bedankte sich und sah zu, wie der Anführer und seine Leute in einen kleinen Raum marschierten. Aus der offenen Tür drang beißender Rauch. Wahrscheinlich spielen sie da drinnen Poker oder Mahjong, dachte er, obwohl sie natürlich genauso gut damit beschäftigt sein konnten, die neusten Richtlinien des Zentralkomitees zu studieren. Er blieb einen Augenblick versonnen lächelnd stehen und hob dann seinen Eimer auf und machte sich vorsichtig auf den Weg zur Toilette. Die hölzernen Türschilder, an denen er vorbeikam, lauteten: Technische Abteilung, Produktionsabteilung, Buchhaltung, Finanzabteilung, Archiv, Nachschlagewerke, Laboratorium, Videoraum. Die Tür zum Videoraum stand offen. Drinnen waren Leute bei der Arbeit.
    Mit dem Eimer in der Hand warf er einen Blick ins Zimmer. Ein Mann und eine Frau sahen sich ein Video an. Die Bilder auf dem Großbildschirm überraschten ihn. Auf dem Bildschirm erschienen in altmodischer Zierschrift die Worte:
     
    EINE SELTENE KÖSTLICHKEIT – HÜHNERKOPFREIS
     
    Die Titelmusik setzte ein. Ein Schlager aus der Kantonoper: «Helle Wolken jagen den Mond». Anfangs interessierte ihn das Video nicht, aber schnell geriet er in seinen Sog. Die Aufnahmen waren von atemberaubender Schönheit. Eine vollautomatisierte Hühnerschlachterei. Die Musik schwoll an, und ein Huhn nach dem anderen wurde in gleichmäßigen Rhythmus geköpft. Der Sprecher sagte: «Die werktätigen Massen und die Kader des Züchtungsinstituts für besondere Nahrungsmittel, tatkräftig gefördert von … haben ihre Bemühungen mit der Weisheit der Massen … in Befolgung der Maxime ‹Wenn du eine Festung angreifst, zeige keine Furcht› in nie nachlassendem Kampf bei Tag und bei Nacht …» Eine Gruppe ausgemergelter großköpfiger Individuen in weißen Kitteln stellten irgendetwas mit einer Reihe von Reagenzgläsern an. Eine andere Gruppe – diesmal waren es bezaubernde junge Frauen, die ihr Haar unter Baseballkappen verbargen und lange weiße Schürzen trugen – sammelte mit langen Pinzetten rohe Reiskörner auf und

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