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Die Schnapsstadt

Die Schnapsstadt

Titel: Die Schnapsstadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Yan
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Gou'er bat um Eis. Der junge Mann forderte ihn auf, den Schnaps zu probieren.
    «Trinken Sie erst mal. Das wird Sie aufwärmen.»
    Seine ernsthafte Miene machte es Ding Gou'er unmöglich abzulehnen, also nahm er die Schale an und trank einen Schluck.
    Das Büro war durch millimetergenau eingepasste Türen und Fensterrahmen hermetisch von der Umwelt abgeschlossen. Wieder juckte es Ding Gou'er am ganzen Körper, und eine Schweißspur lief über sein Gesicht. Er hörte den Mann mit der Stoppelfrisur beruhigend sagen:
    «Kein Grund zur Panik. Wenn Sie sich beruhigen, wird es Ihnen kühler werden.»
    Ein Summen füllte Ding Gou'ers Ohren. Bienen und Honig, dachte er, und mit Honig glasierte Kinder. Die Fensterscheiben schienen zu vibrieren. Sein Auftrag war zu wichtig, als dass er ihn durch mangelnde Vorsicht gefährden durfte. Draußen vor dem Fenster, zwischen Himmel und Erde, bewegten sich lautlos große Baufahrzeuge. Er fühlte sich wie ein Goldfisch im Aquarium. Die Schwertransporter waren gelb gestrichen. Eine betäubende Farbe, eine berauschende Farbe.
    Er bemühte sich, dem Klang der Motoren zu lauschen, aber es gelang ihm nicht.
    Ding Gou'er hörte sich selbst sagen:
    «Ich möchte den Zechendirektor und den Parteisekretär sprechen.»
    Stoppelkopf sagte:
    «Trinken Sie aus, trinken Sie aus!»
    Von Stoppelkopfs Begeisterung mitgerissen, lehnte sich Ding Gou'er zurück und trank sein Schälchen leer. Kaum hatte er es abgestellt, als Stoppelkopf es schon wieder füllte.
    Er sagte: «Danke, für mich nichts mehr. Bringen Sie mich zum Zechendirektor und zum Parteisekretär!»
    «Warum die Eile, Chef?», antwortete Stoppelkopf. «Trinken Sie. Dann machen wir uns auf den Weg. Es wäre pflichtvergessen von mir, Sie so gehen zu lassen. Auf einem Bein kann man nicht stehen. Kommen Sie schon, trinken Sie!»
    Beim Anblick der vollen Schale wurde es Ding Gou'er beinah schlecht. Aber er hatte eine Aufgabe zu erledigen, also nahm er sie und trank sie aus.
    Er stellte sie ab, und schon hatte Stoppelkopf wieder eingeschenkt.
    «Das ist eine eiserne Regel bei uns auf der Zeche. Aller guten Dinge sind drei.»
    «Ich bin kein großer Trinker», wehrte Ding Gou'er ab.
    Stoppelkopf griff mit beiden Händen nach der Schale und hielt sie Ding Gou'er an die Lippen.
    «Bitte, bitte», sagte er mit tränenumflorter Stimme. «Trinken Sie. Sie wollen mich doch nicht unglücklich machen?»
    Ding Gou'er entdeckte so viel echtes Gefühl in seinem Gesicht, dass ihm fast das Herz stehen blieb. Gerührt griff er zu und kippte den Schnaps die Kehle herunter.
    «Vielen Dank, vielen Dank», sagte Stoppelkopf hingebungsvoll. «Wie wäre es mit den nächsten drei?»
    Ding Gou'er legte die Hand über die Schale.
    «Keinen Tropfen mehr für mich», sagte er. «Das war's. Bringen Sie mich jetzt bitte zu Ihren Vorgesetzten!»
    Stoppelkopf sah auf seine Armbanduhr.
    «Es ist ein bisschen früh, um sie zu besuchen», sagte er.
    Ding Gou'er zog seinen Ausweis heraus. «Ich bin in einer wichtigen Mission hier», sagte er ärgerlich. «Versuchen Sie nicht, mich aufzuhalten!»
    Der Mann mit der Stoppelfrisur zögerte einen Moment. Dann sagte er:
    «Gehen wir!»
    Ding Gou'er folgte ihm aus dem Büro der Sicherheitsabteilung. An den Türen zu beiden Seiten des langen Flurs hingen hölzerne Namensschilder. «Ich nehme an, die Büros des Zechendirektors und des Parteisekretärs sind nicht in diesem Gebäude.»
    «Kommen Sie nur mit», sagte Stoppelkopf. «Sie haben drei Schalen Schnaps mit mir getrunken. Also brauchen Sie keine Angst haben, dass ich Sie in die Irre führe. Hätten wir nicht zusammen getrunken, hätte ich Sie einfach zum Büro des Parteisekretärs gebracht und Sie seiner Vorzimmerdame überlassen.»
    Als sie das Gebäude verließen, sah er sein Gesicht, das sich verschwommen in der Glastür spiegelte. Das eingefallene, fremde Antlitz, das ihm entgegensah, erschreckte ihn. Die Türangeln quietschten, als die Tür sich öffnete und dann so schnell wieder schloss, dass sie ihn im Rücken traf. Er stolperte voran. Stoppelkopf streckte eine Hand aus, um ihn aufzufangen. Die Sonnenstrahlen waren Schwindel erregend hell. Seine Knie wurden weich, seine Hämorrhoiden pochten, seine Ohren summten.
    Er fragte Stoppelkopf: «Bin ich betrunken?»
    «Sie sind nicht betrunken, Chef. Wie könnte eine überragende Persönlichkeit wie Sie sich betrinken? Hierzulande betrinkt sich nur der Abschaum der Gesellschaft, Analphabeten, ungebildetes Pack. Intellektuelle, die

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