Die schöne Ärztin
davongelaufen. Ihr Herz war wie zersprungen. Ich werde wahnsinnig, dachte sie nur immer wieder, als sie die Treppe hinunterlief zur ersten Etage, wo das Appartement Ludwig Sassens lag. Ich werde wahnsinnig, bei Gott … ich kann das nicht ertragen … ich sterbe an diesem inneren Schmerz …
Dann, als sie Kurt im Zimmer ihres Vaters sah, bleich, verstört, hilflos fast, dachte sie an die vergangene Stunde in ihrem Zimmer. Mit einem wilden Schrei war sie auf ihn zugestürzt und hatte ihn mitten ins Gesicht geschlagen. Dann war sie auf die Couch gefallen und schüttelte sich seitdem im Weinkrampf.
»Glaubst du das denn auch, Bienchen?« fragte Holtmann sie fassungslos. »Seid ihr denn alle verrückt?«
»Laß mich … Laß mich …«, stöhnte Sabine und stieß mit dem Fuß nach ihm. »Faß mich nicht an!«
Kurt Holtmann, der sich über sie hatte beugen wollen, richtete sich auf. Er schüttelte den Kopf. Er verstand die Welt nicht mehr. Fritz Sassen lief noch immer hin und her und erklärte seinem Vater, daß man es sich nicht leisten könne, gerade jetzt nicht, die Front gegen Vittingsfeld selbst aufzubrechen.
»Das sind familiäre Dinge, Vater. Übermorgen können wir zu Hause alles klären.«
»Was gibt es da noch zu klären?« schnaubte der alte Sassen. »Fang du mir nicht auch noch davon an!«
»Es glaubt mir also keiner?« fragte Kurt Holtmann mit dumpfer Stimme.
»Nein!« antwortete Dr. Ludwig Sassen hart.
»Dann ziehe ich die Konsequenzen! Und zwar sofort! Ich gehe!«
»Und die Konferenz?« rief Fritz Sassen.
»Steckt euch die an den Hut, mich interessiert sie nicht mehr!« grollte Kurt Holtmann und nun brach alles, was sich in ihm angesammelt hatte, aus ihm heraus: »Mich interessiert überhaupt nichts mehr von euch. Ich verzichte darauf, Schwiegersohn eines Millionärs zu werden. Ich wußte es immer, ich gehöre in den Pütt. Dort habe ich Kumpel, die keine Intrigen kennen, die ehrlich und offen sind, die sich in die Fresse hauen, wenn's nötig ist, und hinterher ein Bier zusammen trinken. Aber ich habe keinen mehr um mich, der mit der Maske des Biedermannes dem anderen den Dolch in den Rücken rennt, dessen Leben nur Lüge und Betrug ist, Speichellecken und Rufmord. Ich habe genug von der sogenannten ›Gesellschaft‹, von dieser Hohlheit und dieser Ansammlung von Mißgunst und übler Nachrede, von dieser übersteigerten Selbstbewertung, die bis zur Automarke geht, die man fahren darf, abgestuft nach der Stellung. Wehe, wenn ein Direktor den gleichen oder sogar einen besseren Wagen fährt als der Generaldirektor. Man zieht dann Konsequenzen, weil dem Direktor das Gefühl für den nötigen Abstand fehlt. O Himmel, wie hirnverbrannt das alles ist! Und so etwas entsteht in einem Land, das zwei Weltkriege verloren hat und hätte lernen müssen, daß wir nur Menschen sind. Was ist aus diesem Deutschland geworden? Es ist heute bornierter und hochnäsiger, als es je war! Es ist erstickt im Reichtum, hat sich überfressen am Wohlstand. Mich kotzt das alles an. Jawohl, es kotzt mich an. Ich gehe.«
Er sah noch einmal hin zu Sabine. Sie lag auf dem Bauch und weinte in die Kissen. Ich liebe sie, dachte er. O Gott, wie soll das werden? Sie kann ja nicht anders, sie ist aufgewachsen in dieser Welt von Reichtum und Sorglosigkeit, und sie muß ja glauben, was sie selbst gesehen hat in meinem Zimmer. Für sie muß es der Zusammenbruch einer ganzen Welt sein. Wie für mich.
Dann ging er. Als die Tür zufiel, blieb eine spürbare Leere zurück. Dr. Ludwig Sassen trat ans Fenster und starrte hinaus auf die belebte Straße. Fritz Sassen trank einen Kognak. Sabine richtete sich auf und hielt sich die Hände vor ihr verheultes, gerötetes Gesicht. Sie hörte aber auf zu weinen. In ihr ging rasch eine Veränderung vor sich, gegen die sie sich nicht wehren konnte.
»Was … was macht er jetzt?« fragte sie kaum hörbar.
»Er wird nach Buschhausen zurückfahren«, antwortete ihr Bruder Fritz.
»Und dort?«
»Wird er uns nicht mehr kennen, Schwesterherz.«
»Vielleicht tun wir ihm doch unrecht …«
»Dann sollten wir uns allerdings schämen.«
Dr. Ludwig Sassen bat seinen Sohn, mit dem Blödsinn aufzuhören. Ob er denn die Flegeleien, die dieser Prolet eben noch zum besten gegeben habe, schon wieder vergessen habe?
Sabine blickte stumm vor sich hin. In ihrem Gesicht arbeitete es. Sie rang mit einem Entschluß. Plötzlich erhob sie sich und ging zur Tür.
»Wo willst du hin?« fragte sie ihr Vater.
»Zu ihm.
Weitere Kostenlose Bücher