Die schöne Ärztin
Cabanazzis Narkose war tief genug. »Gib mir das Jod.«
»Wo?«
»Dort, die braune Flasche.«
Mit einem Tupfer reinigte und desinfizierte Waltraud den ganzen Nacken mit der Jodlösung, legte dann Tampons und Tupfer, einen scharfen Löffel und Pinzetten in greifbare Nähe und nahm das Skalpell in die Hand. Mit einem schnellen Kreuzschnitt öffnete sie das pralle Geschwür und zog mit zwei Klemmen die Wunde auseinander. Dicker, gelber, faulig stinkender Eiter floß aus dem Nacken, als sei eine Staumauer gebrochen und träge, lehmige Fluten ergössen sich in die Freiheit.
»Schale!« rief Waltraud. »Verdammt, paß doch auf!«
Veronika schluckte krampfartig. Würgende Übelkeit stieg in ihr hoch, kroch in die Kehle, in die Mundhöhle, drängte zum Erbrechen. Aber sie biß die Zähne zusammen, fing mit der Schale den fließenden Eiter auf und verfolgte die flinken Handgriffe Waltrauds, die jetzt mit dem scharfen Löffel in die Tiefe des Geschwürs ging und begann, das faulige Fleisch auszuschälen.
»Merkt … merkt er auch wirklich nichts …?« stotterte Veronika Sassen und lehnte sich an den Tisch, weil sie spürte, wie ihr die Beine einzuknicken drohten.
»Wenn er etwas merkte, würde er jetzt brüllen wie ein angestochener Stier. Die Schale näher und höher! Du siehst doch, daß jetzt verfaultes Gewebe kommt …«
Von da ab verlief die Operation in ungestörter Stille. Dreimal vertiefte Waltraud die Narkose mit dem Ätherwattebausch wieder, wenn Cabanazzi sich zu rühren begann und leise stöhnte. Sie operierte länger als eine halbe Stunde; sie schnitt nicht nur den Furunkel auf und räumte ihn aus, sondern sie schälte ihn völlig aus seiner entzündeten Umgebung heraus und schnitt tief hinein ins gesunde Gewebe, um ein Übergreifen von Eiterbakterien in die Blutbahn zu verhindern. Dann legte sie dicke, mit Penicillinpuder bestäubte Tampons in die Wunde, deckte alles mit Kompressen ab und verband Cabanazzi.
Als sie fertig war, sank Veronika erschöpft auf den Stuhl, und ihre innere Anspannung löste sich in einem haltlosen Weinen. Waltraud beobachtete Cabanazzi und wartete auf sein Erwachen aus der Narkose.
Sie hatte vorher nicht lange gefragt, ob er etwas gegessen hatte. War dies der Fall, so würde er sich gleich erbrechen, wie das Würgen ja fast immer eine Begleiterscheinung der Äthernarkose ist.
Wenig später erwachte Cabanazzi. Er würgte und erbrach sich prompt und Waltraud hielt ihm dabei den Kopf. Sie hoffte innig, ihn gerettet zu haben.
Gerettet für wen?
Das Gefühl Enrico Pedronellis, Luigi Cabanazzi halte sich hier in der Nähe versteckt, wurde immer stärker. Warum, das konnte er selbst nicht sagen. Man hat manchmal solche Gefühle und unterliegt ihnen, ob man will oder nicht.
Von Dr. Pillnitz hatte er sich anscheinend zuviel erhofft. Der Arzt wurde durch seine Invalidität doch mehr in Mitleidenschaft gezogen, als zu erwarten gewesen war. Er betrachtete sich als Krüppel und schien eingesehen zu haben, daß es besser sei, ein stilles Leben in der Ordination der Zeche Emma II zu führen und nicht weiterhin Aktivitäten zu entfalten, die seine Kräfte überstiegen. Die Jagd nach Cabanazzi schien zuviel zu sein für ihn. Resignierte er? Sah er ein, daß ihm auch Veronika endgültig entglitten war? Fand er sich damit ab, daß diese schöne, gefährliche Frau für ihn nur noch eine Erinnerung bleiben würde, eine Erinnerung an wilde Tage und Nächte, in denen er oft geglaubt hatte, mit einer Raubkatze zusammen zu sein? Pedronelli seufzte und machte sich auf den Weg, den einzigen Mann aufzusuchen, der unter Umständen der Schlüssel zu allem werden konnte: Pater Paul Wegerich.
Nach dem Schlagwetter-Unglück hatte sich Pater Wegerich ganz der Seelsorge der italienischen Gastarbeiter gewidmet. Er hatte erkannt, daß die deutschen Püttmänner für ihre Verhältnisse ausreichend vom örtlichen Pfarrer betreut wurden. Sie besuchten jeden Sonntagmorgen die Kirche, sie beichteten und kommunizierten, und man hätte mit ihnen zufrieden sein können, wenn sie nur ein anderes Verhältnis zu den Italienern gesucht hätten.
Auf dem Fußballplatz kämpften sie Schulter an Schulter um den Sieg und fielen sich um den Hals, wenn sie ein Tor erzielten. Unter Tage und in den Werkstätten der Zeche standen sie nebeneinander und brachen die Kohle aus dem Berg, sortierten und beluden oder stachen in der Kokerei an den Brennöfen die glühende Schlacke ab. Auch in der Waschkaue, Nackte unter Nackten,
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