Die schöne Ärztin
hatte er gedacht, das muß ich mir ansehen. Das ist etwas für einen alten Indianer, wie ich es bin. Er hatte sich sein Rad genommen, als Veronika sich oben im Schlafzimmer zurechtgemacht hatte, und war in das ehemalige Grubengelände hinausgefahren. Vor vierzig Jahren lagen hier noch Schienen und Halden. Eine Reihe Versuchsbohrungen der letzten Jahre hatte man eingestellt, weil die Kohlevorkommen unrentabel waren. Man hatte die Bohrlöcher zugeschüttet und ab und zu ein Warnschild aufgestellt: ›Achtung! Versuchsbohrfeld. Betreten auf eigene Gefahr.‹
Niemand hatte aber bisher eine Gefahr darin gesehen, über die Buschener Heide zu gehen. Auch Oliver fuhr mit dem Rad bis zu den alten Baumstümpfen und warf sich erst ins Gras, als er von weitem den Wagen seiner Mutter kommen sah.
O weh, dachte er. Wenn sie mich hier sieht. Das gibt wieder einen Krach zu Hause. Er zog sein Rad mit in die Deckung und wartete ab, was kommen würde.
Nun sah er einen dunkelhaarigen Mann auftauchen und sah seine Mutter, wie sie dem Mann entgegenflog, ihn umarmte und leidenschaftlich küßte. Er sah, wie die Hände des Mannes über ihren Körper glitten und wie sie sich unter seiner Berührung aufbäumte.
Das ist doch merkwürdig, dachte Oliver. Wer ist dieser Mann? Es wurde schon dunkel, ein fahles Abendlicht, in dem alles mehr und mehr verschwamm.
Er kroch um seinen schützenden Baumstumpf herum, robbte durch das Gras und näherte sich so den beiden eng umschlungen dastehenden Menschen.
Plötzlich gab der Boden unter ihm nach. Er fühlte, daß die Erde wegrutschte. Ein Loch tat sich auf, das ihn verschlang. Er warf die Hände nach vorn, krallte sich am Rand des Loches fest, umklammerte einige Büschel Gras, spürte aber dennoch, wie die Erde abbröckelte, wie sich die Büschel lösten.
Da schrie er, grell, in höchster Angst, mit den Beinen sich an die Grubenwand stemmend:
»Mami! Mami! Mami!!!«
Veronika und Cabanazzi fuhren auseinander, als habe ein Blitz sie getrennt.
»Oliver –«, stammelte Veronika. »Das ist Oliver –«
»Laß ihn!« sagte Cabanazzi rauh und hielt sie fest.
Sie riß sich los.
»Mami!« schrie Oliver. Die Grasbüschel rissen aus der lockeren Erde. Er rutschte und rutschte, der Himmel über ihm wurde eine runde, gezackte, kleine Scheibe. »Mami!!«
Veronika stürzte davon, dem Schrei entgegen. Langsam, mit enttäuschtem Gesicht, folgte ihr Cabanazzi.
6
»Wo bist du, mein Liebling?!« schrie Veronika. »Oliver! Mein Schätzchen!« Sie blieb auf dem Felde stehen und sah sich um. Das kusselige Gelände der Buschener Heide war leer. Und doch mußte Oliver irgendwo in der Nähe sein. Es war seine Stimme gewesen.
»Oliver!« schrie sie wieder. »Wo bist du? Gib doch Antwort! Oliver!«
In dem schmalen Bohrloch steckte Oliver und stemmte sich gegen die feuchte Erde. Er war etwa zehn Meter tief abgerutscht, bis es ihm gelang, an einem Vorsprung, der aus der Erdwand ragte, Halt zu finden. Wie weit es unter ihm noch hinunter in die Tiefe ging, konnte er nicht sehen. Er klemmte nun in der engen Bohrröhre und spürte, wie seine kleinen, schwachen Muskeln zitterten, wie er vor Angst schwitzte und die Kraft, mit der er Hände und Beine gegen die Wand stemmte, langsam nachließ. Gras und Erde waren über sein Gesicht gefallen. Wenn er den Mund öffnete, schluckte er Sand und Grashalme. So gut es ging, schüttelte er den Kopf, um sich von der Erde zu befreien. Er blickte empor und schrie von neuem:
»Mami! Mami!«
Veronika Sassen fuhr herum. Irgendwo aus der Erde drang Olivers Stimme, dumpf und weit weg. Aber man hörte ihn noch, den Schrei eines lebendig Begrabenen.
»Hol jemanden!« rief Veronika und stieß Cabanazzi mit den Fäusten gegen die Brust. »Steh nicht herum! Lauf! Hol Hilfe!«
Aber Cabanazzi rührte sich nicht. Er sagte: »Mich darf keiner sehen.«
»Es geht um Oliver! Dann hol du ihn raus!«
»Womit?« Cabanazzi hob beide Hände. »Damit? Bis jemand kommt, sein es sowieso zu spät, tut mir leid.«
Veronika schloß einen Moment die Augen. Nun war sie nur noch Mutter. Es war ihr egal, ob ihre Affaire mit Cabanazzi entdeckt wurde. Urplötzlich haßte sie ihn, schlug ihn ins Gesicht und rannte dann selbst davon, um Hilfe vom nahen Schacht zu holen. Es war ein wilder, verzweifelter Lauf gegen die Zeit, gegen das Schicksal, gegen den Tod.
Luigi Cabanazzi wartete, bis sie in der Dunkelheit verschwunden war. Dann ging er langsam, vorsichtig, mit der Geschmeidigkeit und Lautlosigkeit einer Katze
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