Die schöne Ärztin
linken Lungenspitze ein beginnender Abszeß. Name: Herbert Kitzing, Alter 35 Jahre. Vater von vier Kindern. Überweisung ins Krankenhaus Bergmannsheil nach Gelsenkirchen.
Durch die Tür schlich Carla Hatz und stellte sich neben Dr. Born, die gerade vor dem Leuchtschirm saß. Entsetzt stellte Waltraud Born mit dem Fußschalter den Röntgenapparat ab. Mit der dunklen Schutzbrille vor den Augen, der langen Bleischürze und den dicken Handschuhen sah sie zum Fürchten aus. Sie stieß Carla Hatz zur Seite und riß die Brille vom Gesicht.
»Sind Sie verrückt, Carla?« rief sie. »Ohne Schutz vor dem Schirm! Wollen Sie sich den Tod holen?«
»Er … er ist da …«, flüsterte Carla Hatz. Ihr kleines, blasses Gesicht wirkte noch schmaler und kindlicher.
»Nein!« Waltraud Born spürte, wie ein Zittern durch ihren Körper lief. »Wo denn?«
»Draußen, im Vorbereitungsraum. Er kommt als übernächster. Er hat an beiden Hüften die Kratzspuren. Er ist es! Er … er spricht auch so wie damals.«
»Wir sollten sofort die Werkpolizei rufen!« Waltraud Born schickte den hinter dem Röntgenschirm wartenden Mann weg. »Sie können gehen!« rief sie laut. »Schicken Sie aber den nächsten noch nicht herein, ich rufe schon!«
»Jawoll, Fräulein Doktor.« Der Mann, ein älterer Bergmann, schlurfte aus dem Zimmer. Dumpf fiel hinter ihm die Tür gegen die dicke Gummiabdichtung.
»Nun ist es soweit«, sagte Waltraud Born und setzte sich auf ihren Untersuchungsstuhl. Die dicke Schürze gab ihr etwas Unförmiges. Sie wirkte wie in einer viel zu großen Ritterrüstung. »Wer ist es denn?«
»Ich – ich habe in der Aufregung nicht auf den Namen geschaut. Ich habe nur die Narben bemerkt.«
»Wir müssen die Polizei rufen, Carla.«
Schwester Hatz schüttelte den Kopf. Dr. Born hob erstaunt den Blick.
»Nicht? Aber warum denn? Unsere ganze Arbeit hatte doch nur dieses eine Ziel –«
»Ich wollte sehen, wer es ist. Nun weiß ich es. Ich habe ihn gesehen!« Carla Hatz lehnte sich gegen die Wand, als brauche sie eine Stütze, als versagten ihr plötzlich die Beine. »Welche Beweise habe ich denn? Nur diese Narben.«
»Sie genügen doch vollauf.«
»Für uns, ja, Fräulein Doktor. Aber für die Polizei? Er wird leugnen, er wird sogar ein Alibi bringen – und was dann?« Carla Hatz schüttelte den Kopf. »Ich habe ihn nun gesehen, in eine polizeiliche Untersuchung will ich nicht noch einmal hineingeraten. Das ist alles so unangenehm, sage ich Ihnen.«
Waltraud Born sah ernst vor sich hin. Sie schob die Brille wieder über ihre Augen und zog die Handschuhe fest um ihre Finger. »Ich habe eine Idee, Carla«, sagte sie hart. Ihre Stimme hatte einen so kalten Klang, daß Schwester Carla die Ärztin erschrocken anstarrte. »Der Mann muß bestraft werden – auch ohne Polizei. Wir werden sehen …« Sie erhob sich, trat an den Leuchtschirm und stellte den Fuß auf den Fußschalter. »Der nächste, Carla. Und dann den mit den Kratzspuren …«
Hubert Kollak war der nächste. Ein junger, kräftiger Mann, dem man von außen nicht ansah, daß seine beiden Lungen schon gesprenkelt von Staubpartikeln waren. Er bekam auf seinen Laufzettel ein großes H gemalt. Hauptuntersuchung, hieß das. Einer der Neuentdeckten mit Staublunge.
»Der nächste …«
Die Tür ging auf. Waltraud Born hatte das Licht eingeschaltet und die Schürze abgebunden. Wer jetzt eintrat, brauchte nicht mehr durchleuchtet zu werden.
Ein großer, kräftiger, über das ganze Gesicht grinsender Mann trat in den Röntgenraum. Ihm folgte die kleine Carla Hatz, bleich und am ganzen Körper zitternd.
»Na, dann wollen wir mal, Fräulein Doktor«, sagte der Mann in rauher Munterkeit.
»Ja, wollen wir mal.« Dr. Born trat an ihn heran. Ihr Blick tastete die beiden Hüftpartien ab. Es stimmte. Oberhalb der Hüftknochen waren deutliche Kratznarben zu sehen.
Waltraud Born trat drei Schritte zurück. Ein kräftiger Kerl, dachte sie. Muskeln wie Stränge. Ein offenes, lachendes Gesicht. Völlig unbefangen. Sollte das wirklich der Schuft sein?
»Wie heißen Sie?« fragte sie.
»Willi. Willi Korfeck.«
Dr. Born sah wieder auf die kleine Carla Hatz. Diese nickte schwach, wandte sich ab und weinte plötzlich. Sie drückte beide Hände gegen den Mund, damit man es nicht hörte. Willis-Bums bemerkte von alledem nichts. Er sah auf den nickelglänzenden Röntgenapparat und die vor ihm liegende weggeworfene Bleischürze.
»Ich bin gesund wie ein Bär, Fräulein Doktor«, sagte er.
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