Die schöne Ärztin
Hause zu ihren Familien, dachten noch einmal über diesen Nachmittag nach und schwiegen. Die Ehre Buschhausens war einigermaßen gerettet. Man brauchte keine Polizei, keine Richter und Gerichte. Das Faule wurde ausgemerzt, ob es ein Kohlkopf im Garten war oder ein Schuft in der Arbeitsgemeinschaft, das blieb sich gleich. In Buschhausen herrschte Ordnung. Es war eine kleine Welt für sich mit eisernen Gesetzen.
Nach dem Gottesdienst am Sonntag blieb Luigi Cabanazzi im Gemeinschaftsraum, der als Kirche hergerichtet war, zurück. Er kniete vorn an der Kommunionbank und hielt die Hände andächtig gefaltet. Sein Schatten, Mario Giovannoni, stand an der Tür und fluchte innerlich. Es war unmöglich, Cabanazzi von der Kommunionbank wegzuholen. Dort, vor dem Altar und dem Kruzifix, war er sicher. Ein Mitglied des Komitees sah noch einmal in die Kirche und stieß Giovannoni an.
»Was ist denn?« flüsterte er. Giovannoni hob die Schultern.
»Er kniet noch da vorn«, zischte er. »Was soll ich machen?«
»Was will er denn?«
»Ich weiß es nicht. Ich bleibe hier.«
»Und wenn er im Schatten des Paters zu verschwinden sucht?«
Giovannoni hob hilflos die Arme. Der Mann vom Komitee entfernte sich eilig. Kurz darauf wurden die beiden Ausgänge des Lagers besetzt. Es geschah unauffällig. Sonntäglich gekleidete Söhne des Südens promenierten vor den Toren auf und ab, rauchten und unterhielten sich mit der Fußballmannschaft, die, bereits im Trikot, auf ihren Schutzpatron, den Pater Wegerich, wartete.
In der Kirche blickte Cabanazzi auf, als Pater Wegerich, noch im Meßgewand, vom Altar zu ihm an die Bank trat. Sie sahen sich eine Weile stumm an.
»Du willst mich noch sprechen, Luigi?« fragte dann Pater Wegerich.
»Ja, padre. Bitte …«
»Dann komm mit.«
Sie gingen in den Nebenraum, der als Sakristei diente. Pater Wegerich zog das Meßgewand über den Kopf und faltete es zusammen. Cabanazzi wartete, auf einem Hocker sitzend, und hatte die Hände zwischen die Knie geklemmt. Mario Giovannoni verließ fluchend die Kirche, nachdem er vorher eine tiefe Kniebeuge vor der Madonna gemacht hatte. Er lief um die Baracke herum und stellte sich unter das Fenster der Sakristei. Vor der Baracke wachten bereits drei Kameraden. Sie standen zusammen und unterhielten sich angestrengt über die Krise im italienischen Parlament.
»Was ist, Cabanazzi?« fragte Pater Wegerich und setzte sich auf einen Tisch. Cabanazzis Gesicht war fahl und eingefallen. Die Angst zehrte ihn auf.
»Sie wollen mich töten, padre«, sagte er leise.
»Wer will dich töten?«
»Die anderen. Sie wollen mich zurückschaffen nach Agremonte. Das bedeutet das gleiche, als wenn sie mich gleich hier umbringen.«
»Dann kann es nur so sein, daß in Agremonte eine Blutrache auf dich wartet …«
»Ja.« Cabanazzi nagte an der Unterlippe. »Bisher gab es neun Tote in beiden Familien.«
»Das ist doch Irrsinn!« entsetzte sich Pater Wegerich. »Ihr sitzt in den Kirchen und betet und nach dem Gottesdienst tötet ihr euch gegenseitig!«
Cabanazzi nickte. »Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun. Wir lieben und ehren Gott, aber wir hassen die Menschen, die unserer Familie Leid zufügen. War es so nicht auch im Alten Testament?«
»Himmel nochmal, wir leben im 20. Jahrhundert!«
»Aber Blut bleibt Blut, und Ehre bleibt Ehre!« Cabanazzi hob beide Hände auf zu Pater Wegerich. Es war eine Geste größter Kläglichkeit und Angst. »Helfen Sie mir, padre. Ich weiß, ich bin ein schlechter Mensch. Aber jetzt wollen sie mich töten. Ich bin nach Deutschland gekommen, um ihnen allen zu entfliehen; ich will weiter nach Südamerika, ich will dort arbeiten, ein neues Leben anfangen, alles vergessen … und nun soll ich zurück nach Agremonte, wo sie alle auf mich warten, Wölfe, die keine Gnade kennen, die mich zerfleischen, ohne zu heulen. Helfen Sie mir, padre!«
Pater Wegerich rutschte von seinem Tisch herunter und ging erregt in der kleinen Kammer hin und her. Als er einen Blick aus dem Fenster warf, sah er davor Mario Giovannoni stehen, der das schmale Fenster nicht aus den Augen ließ und wartete. Pater Wegerich hatte zwei Jahre in Süditalien gelebt und gewirkt, er hatte die unerbittlichen Sittengesetze in den Bergen Siziliens, unmenschliche Gesetze, die weder von der irdischen Gerechtigkeit noch von Gott ausgerottet werden konnten, kennengelernt. Im Gegenteil, die gnadenlosesten Jäger der Mafia waren die treuesten Gläubigen der Kirche. Sie sprachen mit Gott
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