Die schöne Ärztin
solchen Mann entsendet, ist das auserwählte Opfer bereits ein Toter, auch wenn es noch irgendwo atmet.
Aber Luigi Cabanazzi blieb verschwunden.
Seit dem Aufschrei Boltarellis im Rettungswagen 9 hatte ihn niemand wieder gesehen.
Die Anteilnahme der Welt an dem Schicksal der Opfer von Buschhausen war ungeheuer. Tausende Briefe erreichten die Verwaltung von Emma II. Tausende Päckchen und Pakete wurden an die Waisen adressiert. Von allen Seiten kamen Angebote an die Geretteten, ihren Urlaub kostenlos in den schönsten Gegenden zu verleben. Von der Nordsee bis zu den Alpen, vom Rhein bis zur Havel standen alle Erholungsmöglichkeiten offen. Die Spitze hielt ein deutschstämmiger Fabrikant in Südafrika. Er stiftete einen sechswöchigen Aufenthalt für fünf Bergleute in Johannesburg. Freier Hin- und Rückflug und für jeden 1.000, – Mark Taschengeld eingeschlossen.
Die Geldspenden, die eintrafen, machten das Konto auf der Sparkasse Buschhausen fett (Konto Nr. 1000 – Kennwort: Opfer von Buschhausen).
Und das Geld rollte und rollte heran. Eine Lawine der Verbundenheit, die man für unmöglich gehalten hatte, wurde sichtbar. Die Kommentatoren der Zeitungen waren glücklich, nach Jahren der Härte nun einmal romantische Kommentare schreiben zu können. »Wir haben unser Herz nicht in der Wohlstandswelle ertrinken lassen«, hieß es da. »In den Zeiten der Not steht der deutsche Mensch zusammen wie eh und je.«
Das Nationalgefühl schwappte hoch. Wäre es nicht unzeitgemäß gewesen, hätte man die Trommeln gerührt und Fanfaren geblasen.
Die Regierung sprach allen Rettern den Dank des deutschen Volkes aus. Illustrierten-Redakteure gaben sich bei Kurt Holtmann und Dr. Fritz Sassen die Klinke in die Hand und überboten sich in Angeboten für die Schilderung der Rettungstat. Sogar Pater Wegerich bekam einen Hauch echten Journalismus zu spüren: Eine Zeitung aus Amerika bot ihm 30.000 Dollar an zur Gründung eines Bergmann-Waisenhauses, wenn er die ›Erlebnisse eines Priesters in der Hölle‹ schreiben würde.
Die Summe auf dem Konto 1000 schwoll weiter an. Innerhalb von drei Tagen wurde es zum bestgefüllten Konto der Sparkasse von Buschhausen.
Aber Luigi Cabanazzi blieb weiterhin verschwunden. Enrico Pedronelli fuhr mit seinem Mietwagen kreuz und quer durch die nähere Umgebung, besuchte die italienischen Arbeiter in Gelsenkirchen, Essen, Recklinghausen, Wanne-Eickel und Herne, aber niemand hatte Cabanazzi gesehen.
Aus Bonn kam eine Einladung. Trotz der sommerlichen Hitze und der Abwesenheit fast aller Minister wurden Kurt Holtmann, Dr. Fritz Sassen, Dr. Ludwig Sassen und die an der Rettung beteiligten Ingenieure und Bohrarbeiter in die Bundeshauptstadt gebeten. Dr. Vittingsfeld führte die Delegation an. Er war zwar nicht eingeladen, aber er kam mit, schon um im richtigen Augenblick zu verhindern, daß Kurt Holtmann der Regierung eventuell ein anderes Bild vom deutschen Bergbau gab, als es die offizielle Version war.
Diesen Tag benutzte Dr. Waltraud Born, die zu Hause geblieben war, zu einem Spaziergang in die Umgebung von Buschhausen. Sie hatte das Revier der kleinen Schwester Carla Hatz übergeben. Es lagen keine Unfälle vor, und die Verbände der ambulanten Patienten konnte Schwester Carla auch ohne Aufsicht Waltraud Borns wechseln.
Sie hatte sich vorgenommen, einmal nicht durch die aufgeforsteten Halden zu gehen, sondern einen anderen Weg zu nehmen, den sie bisher noch nicht kannte. Es war ein Spaziergang rund um den See, das Baggerloch, herum. Hier war noch so etwas wie Wildnis. Alte Steinbrüche wurden von Büschen überwuchert, eine verlassene Gartenkolonie verfiel, sie erlag den Kräften von Wind und Regen, grasbewachsene Wege führten durch die ehemalige Laubenkolonie, deren größtenteils abgerissene oder windschiefe Häuschen den Eindruck einer Dornröschensiedlung machten.
Langsam bummelte Waltraud Born durch das hohe Gras und las die morschen und vom Wetter zerfressenen Schilder an den alten Gartenlauben.
Villa Abendruh.
Haus Elfriede.
Zum fleißigen Eugen.
Villa Immergrün.
Hier haben unsere Väter einmal Salat und Bohnen gezogen, dachte sie. Sie haben Radieschen gesetzt und Kohlköpfe zusammengebunden. Und abends, am Sonnabend und Sonntag, saßen sie auf der Bank vor der Laube und tranken Kaffee. Mutter trug den selbstgebackenen Topfkuchen auf, und auf dem Tisch lag eine gehäkelte Decke schön gestärkt mit Zuckerwasser.
Dann war die Zeit über sie hinweggerollt. Eine Eisenbahn wurde
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