Die schöne Ärztin
das Leben ihrer Kameraden. Es war ein verzweifelter Kampf gegen den Tod, den man nicht sah, nicht hörte, nicht roch. Den man nur fühlte … und wenn man ihn fühlte, war es oft schon zu spät.
Der kräftigste der Eingeschlossenen war noch immer Luigi Cabanazzi. Er erholte sich sehr schnell nach ein paar tiefen Zügen reinen Sauerstoffs und half dann mit, den anderen Kumpels die Plexiglastrichter vor den Mund zu halten und ihnen das Leben einzupumpen. Nach einer halben Stunde brachte die Dahlbuschbombe neben dem Steiger Ernst Wibronitz auch fünfzig Gasmasken in die Tiefe. Wer wieder etwas kräftiger atmen konnte, stülpte sich die Maske über und kroch auf Händen und Füßen heran, um den anderen Kameraden zu helfen und ihnen zusammen mit dem Sauerstoff Fruchtsaft zwischen die fahlen Lippen zu gießen. Pater Wegerich kniete bei den Toten und betete, spendete ihnen die Sakramente und segnete sie. Er fragte nicht, ob sie katholisch oder evangelisch waren. Hier unten waren sie alle gleich, Menschen, die ihr Leben gelassen hatten und denen Gott gnädig sein mußte, denn Gott ist der gleiche, ob man ihn von rechts oder von links sieht.
Dann kroch Pater Wegerich zu den Verletzten und verband sie. Er riß die Fetzen weg, meistens Streifen aus zerrissenen Hemden, mit denen sie sich selbst verbunden hatten, und legte richtige Verbände um die zerschundenen, zerquetschten, aufgerissenen Glieder. Sie waren zu schwach, um zu schreien, als er ihnen die Fetzen abriß. Aber dann sahen sie ihn aus dankbaren Blicken an und tasteten nach seinen Händen. Einer der Verletzten betete leise, seine blutigen Lippen bewegten sich und die Augen stierten gegen die Felsdecke, die sein Grabdeckel hätte sein können.
Dr. Sassen kam zu Pater Wegerich, der den letzten Verwundeten versorgte.
»Zuerst die Verletzten«, sagte er. »Sind sie transportfähig, Pater?«
»Ja, nur noch etwas Sauerstoff –«
Der erste Kumpel wurde in die Dahlbuschbombe gestellt und festgeschnallt. Seine Beine knickten ein, aber mit den Händen über dem Kopf hielt er sich verzweifelt an den Griffen fest und versuchte sogar, zu lächeln.
»Komm, noch 'n Schluck Luft, Kumpel«, sagte Kurt Holtmann und hielt ihm die Sauerstoffmaske vor. Der Verletzte atmete ein paarmal kräftig ein, seine Augen bekamen einen hellen Glanz.
»Gut!« sagte er rauh. »O Gott, ist das gut! Und nun rauf!«
Das Signal, ein Ruck, die Bombe drehte sich am Drahtseil, schwebte zur Decke der Höhle und schlüpfte in die enge Stahlröhre.
Der erste Eingeschlossene kehrte zurück in das irdische Paradies.
Oben, an der Plattform des Bohrturmes, rund um die Rettungswagen, an den Seilen der Absperrung, im Pressequartier und bei den Filmleuten vom Fernsehen und der Wochenschau, sprang die Erregung wie ein elektrischer Funke von einem auf den anderen über.
Die kleine Scheibe, über die das lange Drahtseil lief, drehte sich. Über das Mikrofon hatte Fritz Sassen den Namen gemeldet. Er flog von Mund zu Mund.
Nummer 1: Hauer Emil Gawlischeck, 46 Jahre alt, Vater von vier Kindern.
Sein Name ging in diesem Augenblick um die Welt. Noch während er emporschwebte zum Tageslicht, zum Licht des Lebens, atmeten Millionen Menschen auf, die mit ihren Herzen jetzt in Buschhausen waren.
In dem ›Familienzelt‹, in dem die Angehörigen der Eingeschlossenen warteten, wurde Ilse Gawlischeck von zwei anderen Frauen festgehalten. »Emil!« schrie sie immerfort. »Emil! Mein Emil kommt wieder!« Die vier Kinder saßen eng zusammengedrückt auf einer Bank und weinten laut.
Ein Sanitäter sah in das Zelt. »Frau Gawlischeck kann in zehn Minuten zum Wagen 1 kommen.«
Wagen 1 war einer der drei fahrbaren Operationssäle, die rund um den Bohrturm aufgestellt waren.
Ilse Gawlischeck hörte es nicht mehr. Sie war ohnmächtig geworden.
Von nun an ging es schnell.
Nacheinander kamen sie ans Tageslicht, wurden sie auf Tragen gelegt, in Decken gehüllt und im Laufschritt zu den Rettungswagen gebracht. Zwölf Ärzte und dreiundzwanzig Sanitäter standen bereit. Zu jeder Trage gehörten zwei ausgebildete Sanitätshelfer. Die Verletzten wurden sofort, zusammen mit ihren Angehörigen, in rasender Fahrt zum nächsten Krankenhaus gefahren.
Die Organisation klappte vorzüglich, und Dr. Vittingsfeld tat ein übriges, indem er vor den Kameras der Wochenschau und der Fernsehanstalten impulsiv die Hände von Dr. Ludwig Sassen drückte und schüttelte und ihn laut den ›Retter von Buschhausen‹ nannte. Er tat dies nicht aus
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