Die schöne Ärztin
nach Buschhausen verlegt, Steinbrüche entstanden in unmittelbarer Nachbarschaft. Da waren die Menschen geflüchtet vor dem Lärm und hatten ihre kleinen Paradiese verlassen. Übrig blieb nur ein Schild mit einer rührendschnörkeligen Schrift: Villa Abendruh.
Sie gab es längst nicht mehr, die Abendruh.
Mit einem Ruck blieb Waltraud Born plötzlich stehen. An einem von Büschen überwucherten Steinbruch parkte ein weißer Sportwagen. Sie brauchte nicht zu fragen, wem er gehörte. Sie kannte ihn zu genau. Neben dem Steinbruch lag eine alte, halb verfallene Gartenlaube in einem völlig verwilderten Garten, eines der kleinen Sommerhäuschen, die den Stein brechenden Dampfhämmern gewichen und dem Verfall überlassen worden waren.
Vorsichtig, auf Zehenspitzen sich hinter den Büschen haltend, schlich Waltraud Born näher. Wie gelähmt blieb sie schließlich stehen, als sie vor sich die Gestalt Veronika Sassens sah. Sie trug eine große Einkaufstasche, prall gefüllt, und ging schnell auf das alte Holztor zu, das den Garten noch immer vom überwachsenen Weg trennte. Als sie die Laube erreichte, pfiff sie leise. Den Anfang einer italienischen Melodie, einen Musikfetzen, immer wieder die gleichen vier, fünf Takte.
Die Tür der Laube öffnete sich einen Spalt. Dann schwang sie ganz auf und Luigi Cabanazzi trat heraus, nachdem er sich mehrmals nach allen Seiten sichernd umgeblickt hatte.
»Mia Bella«, sagte er laut und breitete die Arme aus. Veronika winkte und lachte, sie lief die letzten Meter und stürzte in seine ausgebreiteten Arme. Mit einer Innigkeit, als versänke tatsächlich die Welt, küßten sie sich. Dann zog Cabanazzi zärtlich Veronika Sassen in die verfallene Hütte und schloß die Tür.
Waltraud Born wartete noch einen Moment und starrte auf das schiefe Dach und die vernagelten Fenster der Laube. Was sie gesehen hatte, war so ungeheuerlich, so unbegreiflich, daß sie mehrmals den Kopf schüttelte, um sich selbst zu beweisen, daß sie wach war und nicht träumte.
Veronika Sassen hielt Cabanazzi versteckt. Den Schuldigen am Tode von mehr als 200 Bergleuten. Den Mann, der unter Tage geraucht hatte. Sie verbarg ihn in einer alten Hütte, brachte ihm Essen und Trinken und war auf einem alten, zerschlissenen Matratzenlager seine Geliebte. Sie hatte ihn schon zehnmal verflucht, ihn gehaßt – und verfiel ihm doch immer wieder. Die Ursache lag in ihr selbst.
Waltraud Born spürte, wie Übelkeit in ihr hochstieg, wahnsinniger Ekel, der zum Ausspucken drängte. Sie wandte sich ab und rannte den Weg zurück. Sie lief, als werde sie verfolgt, als jage ihr Cabanazzi nach, um sie zu töten.
Außer Atem gelangte sie zum See, unter Menschen, die im Baggerloch badeten und ihr verwundert nachblickten, als sie mit wehenden Haaren an ihnen vorbeilief.
Erst in ihrem Zimmer wurde sie wieder ruhiger, trank einen Kognak und legte sich auf das Sofa.
Was soll ich tun? dachte sie. Soll ich die Polizei anrufen? Soll ich ihnen sagen: Cabanazzi ist im Bergener Bruch? Oder soll ich mit Veronika selbst sprechen, heute abend noch, bevor die Männer ihrer Familie aus Bonn zurückkommen, hochgeehrt und bewundert?
Himmel, was soll ich tun?
Nicht die Polizei, dachte sie weiter. Die Familie Sassen muß herausgehalten werden. Ihr Name ist jetzt in aller Munde. Der Skandal wäre das Ende der Familie, vielleicht auch das Ende zwischen Fritz und mir.
Fritz. Ja, das war der Gedanke. Sie mußte zuerst mit Fritz sprechen. Vielleicht wußte er einen Weg, Veronika zur Vernunft zu bringen und Cabanazzi der Polizei zu übergeben, ohne daß der Name Sassen mit hineingezogen wurde.
Sie lag auf dem Rücken, starrte an die Decke und hatte plötzlich einen bitteren, einen bösen Gedanken. Die Lösung dieses Problems wäre ganz einfach. Es genügte nur ein Hinweis im Italienerlager. Um das Weitere brauchte sich niemand mehr zu kümmern. Auch die Polizei nicht. Sie würde bestimmt zu spät kommen.
Schaudernd zog aber Waltraud die Schultern zusammen. Nein. Das wäre Mord, dachte sie, nackter Mord. Das kann ich nicht machen.
Sie schreckte hoch, als das Telefon schrillte. Sie war eingeschlafen und rieb sich die Augen. Gleich Mitternacht.
Am Apparat war Fritz. Sie hörte um ihn herum Stimmengewirr und Lachen, Musik und Fröhlichkeit.
»Mein Liebling!« rief er. »Ich mußte dich wecken. Wir sind eben von Bonn zurückgekommen, und nun steigt hier eine große Fete – Der Alte ist aufgekratzt wie ein Hochzeiter, und Mama hat aus dem Keller
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