Die schöne Ballerina (German Edition)
ihn nicht mehr wiedersehen würde. Vielleicht weigerte sich auch ihr Unterbewusstsein, den Verlust hinzunehmen.
Erst nach dem Tode ihres Mannes ging es Mary auf, wie glücklich sie in ihrer Ehe gewesen war. Abgesehen von den kleinen Reibereien hatte zwischen den Eheleuten tiefes Einverständnis geherrscht. Sie hatten einander geschätzt und geachtet. Und für Mary war es immer selbstverständlich gewesen, dass ihr Mann sie in seiner ruhigen, unaufdringlichen Art umsorgte und beschützte.
Inzwischen hatte sie lernen müssen, mit ständigen Schmerzen und ohne ihren Mann zu leben.
Lindsay sah im Geiste ihre Mutter wieder am Fuß der Treppe stehen, sah den Ausdruck von Schmerz und Unzufriedenheit auf ihrem Gesicht. Würde sie ihr je begreiflich machen können, dass sie auch in ihrem jetzigen Beruf glücklich war? Warum wollte Mary denn nicht verstehen, dass Lindsays Karriere als Ballerina zu Ende war?
Wie so oft, wenn Lindsay über ihre Mutter nachdachte, fühlte sie sich hilflos und niedergeschlagen, und obgleich sie wusste, dass es nicht in ihrer Macht lag, Mary zu helfen, verspürte sie Gewissensbisse. Es war wie eine Bürde, die sie tragen musste. Niederdrückend dabei war besonders der Gedanke, dass ihr die Last von der eigenen Mutter aufgeladen wurde. Waren Mütter nicht dafür da, ihren Kindern das Leben zu erleichtern?
Schluss mit den unnützen Grübeleien, rief sie sich zur Ordnung. Mich trifft keine Schuld an Vaters Tod, und ich hätte New York nie verlassen, wenn mich die Umstände nicht dazu gezwungen hätten.
Ganz bewusst versuchte sie an erfreulichere Dinge zu denken, zum Beispiel an den vergangenen Abend.
Lindsay hatte sich über den großen Applaus genauso gefreut wie ihre Schülerinnen. Der Erfolg der Aufführung würde den guten Ruf ihrer Schule festigen und den kleinen Tänzerinnen noch mehr Ansporn geben.
In diesem Augenblick vermochte Lindsay sogar über den unerfreulichen Beginn des Tages zu lächeln. Warum habe ich mich über ein paar unwichtige Kleinigkeiten nur so aufgeregt? fragte sie sich. Wieso bin ich wegen dieses unfreundlichen Fremden so aus der Fassung geraten? Er konnte wirklich nichts dafür, dass ich ihm fast ins Auto hineingerannt wäre. Darf ich ihm da übel nehmen, dass er grob geworden ist?
Ihr fielen die schönen Hände des Unbekannten ein, und sie erinnerte sich daran, wie angenehm seine Stimme gewesen war, wenn er sie nicht gerade angeschrien hatte.
Und plötzlich wünschte sie, er käme sich möglichst bald seine Jacke zurückholen.
Er wird Augen machen, wenn er anstelle der tollpatschigen Göre eine elegante junge Dame antrifft, dachte sie befriedigt, und über dieser erfreulichen Vorstellung schlief sie endlich ein.
3. K APITEL
Am nächsten Morgen schien die Sonne. Nur ein paar Pfützen und der nasse Rasen erinnerten noch an das Unwetter der vergangenen Nacht. Leichter Dunst stieg von der Straße auf, und es war recht kühl.
Andy stellte die Heizung in seinem Wagen ein wenig höher, als er Lindsay aus der Haustür kommen sah.
Obgleich er sie seit fünfzehn Jahren kannte, schlug sein Herz jedes Mal höher, wenn er sie erblickte. Schon als kleiner Junge war er von Lindsays Schönheit überwältigt gewesen, und daran hatte sich bis heute nichts geändert.
Andy hatte schon lange erkannt, dass er sie liebte, machte sich aber über Lindsays Gefühle ihm gegenüber keine Illusionen. Zu seinem großen Kummer würde es nie mehr als Freundschaft zwischen ihnen geben.
Beschwingten Schrittes kam Lindsay auf den Wagen zugelaufen. Schon an ihrem Gang erkennt man, dass sie Tänzerin ist, dachte Andy und hielt ihr die Tür auf.
Lachend ließ sie sich neben ihn auf den Sitz fallen, umarmte ihn und küsste ihn herzlich auf die Wange. »Andy, was würde ich nur ohne dich tun?«, rief sie. »Du bist heute mal wieder meine einzige Rettung!«
Liebevoll raufte sie ihm den ungebärdigen braunen Haarschopf, der sich nie so recht bändigen ließ. Andy bedeutete ihr sehr viel. Sie liebte diesen großen, zuverlässigen Mann wie einen Bruder, und obgleich er ein wenig älter war als sie, hegte sie ihm gegenüber oft mütterliche Gefühle.
»Es ist wirklich schrecklich lieb von dir, dass du mich ins Studio bringst.«
Er atmete den frischen zarten Duft ihres französischen Parfüms ein und war sich schmerzlich ihrer körperlichen Nähe bewusst. Unauffällig rückte er ein wenig von ihr ab, sah sie zärtlich von der Seite an und meinte: »Aber, Kleines, das tu ich doch gern.«
Lindsay
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