Die schöne Ballerina (German Edition)
geben wollte, und hielt ihr entschuldigend seine von Wagenschmiere völlig verschmutzten Hände entgegen.
»Miss Dunne.« Seths Stimme klang so neutral, dass Lindsay im ersten Augenblick dachte, er hätte sie nicht erkannt. Ein Blick in seine Augen belehrte sie eines Besseren. Er erinnerte sich nicht nur, er amüsierte sich ganz offensichtlich. Dennoch hätte seine Begrüßung nicht formeller und höflicher ausfallen können.
Na, wenn du es so willst, dachte Lindsay, dann halte ich mich eben auch an diese Spielregeln.
»Mr Bannion«, sagte sie ebenso höflich, jedoch sehr distanziert, »ich freue mich, dass es Ihnen möglich war, Ruth heute Morgen zu begleiten.«
»Oh, ich hatte absolut nichts Besseres zu tun.«
Was will er nun mit diesen Worten ausdrücken? fragte sich Lindsay. Soll das ein Kompliment sein oder macht er sich über mich lustig? Sie wandte sich an Ruth. »Komm, wir wollen hineingehen.«
Während sie auf das Haus zuging und in ihrer Tasche nach dem Schlüssel kramte, winkte sie noch einmal schnell zum Abschied in Andys Richtung.
»Es ist sehr freundlich von Ihnen, Miss Dunne, dass Sie mir erlaubt haben, heute Morgen schon so früh zu kommen.« Ruths Stimme klang genau wie gestern, dunkel und ein wenig unsicher, als könne sie ihre Nervosität kaum unter Kontrolle halten. Lindsay bemerkte, wie sie sich an den Arm ihres Onkels klammerte.
Sie lächelte und legte Ruth leicht die Hand auf die Schulter. »Ich nehme mir immer gern ein bisschen Zeit, um eine neue Schülerin kennenzulernen.« Sie spürte, dass Ruth die Berührung unangenehm war, und nahm wie zufällig ihre Hand zurück.
»Nun erzähl mir zuerst einmal, bei wem du bisher Unterricht gehabt hast«, schlug sie vor, während sie die Studiotür aufschloss.
»Bei verschiedenen Lehrern.« Ruth und ihr Onkel waren auf Lindsays einladende Geste hin ins Studio getreten. »Ich bin mit meinen Eltern viel herumgereist.«
»Verstehe.« Lindsay sah Seth an, aber dessen Miene blieb ausdruckslos. »Bitte, machen Sie es sich inzwischen bequem, Mr Bannion«, forderte sie ihn auf, wobei sie seine formelle Höflichkeit nachahmte.
Seth nickte wortlos und drückte schnell Ruths Hand, bevor er auf einem der Stühle an der Wand Platz nahm.
»Die meisten unserer Klassenräume sind nicht besonders groß«, erklärte Lindsay, während sie die lange Jacke auszog, unter der sie bereits ihr blassgrünes kurzes Trainingstrikot trug. »An der Einwohnerzahl von Cliffside gemessen, haben wir zwar verhältnismäßig viele Schülerinnen, aber wir kommen auch ohne Säle zurecht.«
Sie lächelte Ruth zu und streifte wollene Legwarmer über die grüne Strumpfhose. Seths Augen wirkten heute eigentlich mehr grün als grau, dachte sie unpassenderweise in diesem Moment und zog unwillig die Brauen über der Nasenwurzel zusammen, als sie nach ihren Ballettschuhen griff.
»Es macht Ihnen Freude zu unterrichten, nicht wahr?« Ruths eng anliegendes altrosa Trainingstrikot hob ihre dunkle Schönheit hervor.
Bevor Lindsay antwortete, erhob sie sich. »Ja, sehr.« Dann legte sie eine Schallplatte auf und ging Ruth zur Spiegelwand voraus. »Zuerst ein paar Übungen an der Stange.«
Lindsay legte die Hand auf die barre und bedeutete Ruth, die sich ihr gegenüber aufstellte, dasselbe zu tun. »Also jetzt die erste Position.«
Der Spiegel reflektierte den Gleichklang ihrer Bewegungen. Obgleich Lindsay blond und Ruth dunkel war, bestand in diesem Augenblick eine starke Ähnlichkeit zwischen den beiden, denn sie waren nicht nur ungefähr gleich groß und gleich schlank, sondern bewegten sich auch mit derselben Leichtigkeit und Anmut.
»Und jetzt grand plié .«
Mühelos gingen beide in die Kniebeuge. Lindsay achtete besonders auf Ruths Rücken, ihre Beine und die Stellung ihrer Füße, während sie langsam mit ihr die fünf Grundpositionen durchführte. An Ruths pliés und battements gab es nichts zu beanstanden. Aus jeder ihrer Gesten, jeder Bewegung sprach ihre Liebe zum Tanz.
Schmerzlich wurde Lindsay an ihre eigene Lehrzeit erinnert, an ihre Träume, ihre Wünsche. Ruth ist noch so jung, dachte sie. Hoffentlich erspart ihr das Schicksal große Enttäuschungen. Es war leicht, sich selbst in Ruth wieder zu erkennen, während sie beide in vollkommener Harmonie ihre Übungen durchgingen. Für beide gab es bis zum Verklingen der Musik nichts Wichtigeres als die Konzentration auf die Bewegung.
»Jetzt die Spitzenschuhe.« Lindsay ging zur Stereoanlage, um eine andere Platte
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