Die schöne Diebin
kunstvolle Knoten seines Krawattentuchs hatte sich gelöst, sein Hemd war zerknittert, und auch seine Frisur hatte gelitten. Er stieß einen Fluch aus und griff nach der Klingelschnur.
Nora beugte sich nach vorn, um wieder zu Atem zu kommen. In größter Eile war sie von der Eiche auf den Boden geklettert und hatte sich, alle Wachposten umgehend, aus dem Park des Earls geschlichen. Dann war sie ein Stück weit gerannt, so schnell sie nur konnte. Jetzt endlich befand sie sich in Sicherheit.
Jetzt endlich hatte sie Zeit, über das nachzudenken, was geschehen war.
Sie hatte den Earl of Stockport geküsst, jenen Mann, den manche Bewohner der Gegend als „Cock of the North“, als Nordenglands Hahn im Korb, bezeichneten, weil er bei den Damen so begehrt war. Nun, er sah wirklich gut aus. Er wusste sich elegant zu kleiden, er verfügte über Charme und Intelligenz. Er konnte küssen. Und er war sich seiner Anziehungskraft bewusst.
Nora brach in lautes Lachen aus, als ihr einfiel, wie fassungslos er dreingeschaut hatte, als sie ihn als „gar nicht übel“ bezeichnete. Gleich darauf hatte er ihr mit seiner Bemerkung über die Zähne die Möglichkeit gegeben, etwas zu tun, womit er überhaupt nicht rechnete. Sie hatte ihn geküsst. Nun, es war eine ihrer Stärken, kaum jemals das zu machen, was andere von ihr erwarteten. Deshalb war sie in ihrem „Geschäft“ so erfolgreich.
Diesmal aber hatte sie beinahe einen Fehler gemacht. Sie hätte wissen müssen, dass der Earl seinen Spitznamen nicht ohne Grund trug. Sein männlicher Duft, seine kundigen zärtlichen Hände, sein leidenschaftlicher Kuss hätten sie fast ihr Ziel vergessen lassen. Und das durfte niemals geschehen.
Tatsächlich hatten Hattie und Alfred sie vor dem Abenteuer gewarnt, in das sie sich an diesem Abend gestürzt hatte. Dabei allerdings hatten sie nicht an Stockports erotische Ausstrahlung gedacht. Sie hatten lediglich das Risiko gefürchtet, das Nora einging, indem sie in das Haus des Earls eindrang, wenn er daheim war und Gäste bewirtete.
Doch gerade dieses Risiko hatte sie gereizt.
Sie und ihre Freunde hatten das Anwesen beobachtet, bis sie alles Wichtige in Erfahrung gebracht hatten. Nora hatte beschlossen, in einen Raum einzudringen, der als schwer zugänglich galt. Denn das würde ein Beweis für das Geschick des Einbrechers sein und allen klarmachen, dass nichts und niemand The Cat aufhalten konnte.
Selbstverständlich stahl sie nicht aus Eigennutz. Ihr ging es einerseits darum, den Bau der neuen Textilfabrik zu verhindern. Andererseits wollte sie mit jedem Diebstahl bei den Reichen an deren soziales Gewissen appellieren und sie daran erinnern, wie viele Menschen durch die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Veränderungen in Not geraten waren. Sie selbst sah sich als modernen Robin Hood, denn ihre Beute nutzte sie, um die Armen zu unterstützen.
Zunächst schien alles nach Plan zu gehen. Problemlos hatte sie Stockports elegant eingerichtetes Schlafzimmer erreicht. Von all den Wertgegenständen, die sie dort vorfand, hatte ihr der Ring am besten gefallen, weil er klein, leicht zu transportieren und kostbar war. Allerdings musste sie sichergehen, dass der Earl den Verlust auch bemerkte. Also hatte sie begonnen, das Zimmer durcheinanderzubringen. Dabei war sie gegen einen Stuhl gestoßen. Das Geräusch musste Stockport nach oben gelockt haben.
Sein Erscheinen hatte ihr Herz schneller schlagen lassen. Angst hatte sie jedoch nicht verspürt. Sie war aufgeregt gewesen, ja. Und sie hatte improvisieren müssen. Glücklicherweise war sie gut darin.
Ah, es war ein gutes Gefühl gewesen, solche Macht über ihn, einen attraktiven, einflussreichen Mann, zu haben!
Dennoch war es ein Fehler gewesen, den Ring gegen einen Kuss zu tauschen. Nun musste sie, um Lebensmittel für die Bedürftigen kaufen zu können, noch einen zweiten Einbruch wagen. Sie würde also zum dritten Mal in Squire Bradleys Haus eindringen, um etwas von dem Tafelsilber zu stehlen.
2. KAPITEL
Zwei Stunden später betrat Nora das Haus mit dem Namen Old Grange, das sie vor einiger Zeit gemietet hatte. Leise stieg sie die Stufen zum ersten Stock hinauf. Unter der Tür zu ihrem Zimmer war ein schmaler Lichtstreifen zu erkennen. Hattie hatte also auf ihre Rückkehr gewartet.
„Du hast Erfolg gehabt?“, fragte sie und griff nach dem Beutel, den Nora ihr hinhielt. „Soll ich alles am üblichen Platz verstecken?“
„Ja und ja.“
„Warst du mit unseren Informationen
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