Die schoene Frau Seidenman
geholt. Müller spürte, wie ihre Hand die seine berührte.
»Ich danke Ihnen«, sagte sie leise, und er hatte ein sehr angenehmes Gefühl. »Diesen Tag werde ich nie vergessen. Und nie, nie mehr im Leben werde ich die Schuch-Allee betreten.«
Vielleicht hatte sie sich geirrt, als sie, in dem Käfig sitzend, ihr Dasein als Erinnerung an die Welt, nur als Erinnerung an die Welt überdachte. Wenn das Leben nur das Vergangene ist, hatte sie das Recht anzunehmen, sie würde nie wieder die SchuchAllee betreten und dieser Apriltag würde für immer tief in ihrem Bewußtsein haften bleiben. Doch ist das Leben auch das noch nicht Geschehene. Es ist mühselige Vorwärtsbewegung bis zum Ende des Weges. Im Laufe der nächsten fünfundzwanzig Jahre betrat sie täglich die Schuch-Allee, ja sogar das Gebäude, in dessen Kellern sich die Käfige befanden. Und sie dachte fast nie an jenen Apriltag, an jene im Käfig verbrachte Nacht, als sie nur wegen des idiotischen Zigarettenetuis mit den Buchstaben I. S. auf den Tod wartete. Sie betrat täglich das Gebäude des Ministeriums, in dem sie eine wichtige Stellung bekleidete, und dachte nicht einmal daran, daß sich in diesem Gebäude das Museum der Märtyrer befand, und wenn die Umstände sie daran erinnerten, spürte sie Unwillen. Ihr Leben war das Geschehene, aber eigentlich nicht nur das endgültig Geschehene, sondern auch das noch nicht ganz Geschehene, das sich im Zustand des Geschehens Befindende. Daran dachte sie. Nur das zog ihre Aufmerksamkeit auf sich. Sie hatte oft quälende Träume, doch nicht vom Krieg und von der Okkupation, nicht einmal von Dr. Ignacy Seidenman, der noch irgendwo in ihrem Gedächtnis, im hintersten Kämmerchen ihrer Erinnerung existierte, aber nicht mehr als ihr Mann, sondern als Zeichen und Symbol einer längst unter der Asche vergrabenen Vergangenheit, als Zeichen des Guten und Wertvollen, das einst ihr Leben erfüllt hatte, um später unter dem Druck all dessen, was da langsam geschah, im Schatten zu versinken, in Leiden, Erwartung, Bitterkeit. Doch dieses Leiden und diese Erwartung waren der Sinn des Ganzen, sie erfüllten Irma Seidenmans Geist völlig, weil sie eine tätige, ehrgeizige, kluge Frau war, weil sie mit eigenen Händen die Wirklichkeit formen, mit den Fingerspitzen ihre Rauheiten, aber auch ihre Glätte fühlen wollte, an der es gleichfalls nicht fehlte, vor allem in den Augenblicken, wenn schließlich doch etwas geschah, um dem Ungeschehenen Platz zu machen.
Manchmal wunderte sie sich, weil in ihr ein besonderes Instrument steckte, das wie eine Geige mit Rissen falsch widerhallte. Vielleicht, dachte sie nach vielen Jahren als sehr alte Frau, vielleicht hat diese Geige während des Krieges Risse bekommen, während jener im Käfig auf der Schuch-Allee verbrachten Nacht, oder noch früher, im Sommer 1938, während ich beim Morgengrauen durch das Telefon erfuhr, daß mein Mann, Dr. Ignacy Seidenman, gerade gestorben sei. Irgendetwas an diesem Instrument klang falsch, und Irma wußte das, weil sie einen sehr musikalischen Sinn für ihre Existenz besaß. Wenn sie ihr graues, gleichsam ein wenig angeschmutztes Haar – bei hellen Blondinen kommt das im Alter oft vor – kämmte und dabei in ihrem hübschen, sonnigen Zimmer auf der Allée de la Motte-Picquet saß oder irgendwo die Zeitungen durchsah, auf der Terrasse eines Cafés an der Avenue Bosquet, wo sie fast jeden Tag einen citron pressé trank, eine einsame alte Jüdin auf dem Pariser Pflaster, wenn das geschah, dreißig Jahre nach dem Tage, als Stuckler ihr erlaubt hatte, an der Seite des alten Müller das Gestapo-Gebäude zu verlassen, dann erinnerte sie sich weder an Stuckler noch an den vergitterten Käfig, sondern an ihr nicht sehr großes Arbeitszimmer mit dem Schreibtisch von der Farbe dunklen Honigs, mit den zwei Telefonen, der Topfpalme unter dem Fenster, dem Teppich, den mit Skai bezogenen Sesseln, an dieses Arbeitszimmer erinnerte sie sich sehr gut, an das Gesicht ihrer Sekretärin, Frau Stefa, besonders aber an die Gesichter der drei dickfelligen und spöttischen Männer, die damals im April des Jahres 1968 erschienen, um sie aus ihrem Zimmer zu entfernen. Und als alte Frau auf dem Pariser Pflaster erinnerte sie sich überhaupt nicht daran oder wollte sich nicht daran erinnern, daß sie im Kriege in demselben Gebäude hartnäckig wiederholt hatte: ›Ich heiße Maria Magdalena Gostomska und nicht Seidenman! Ich bin die Witwe eines polnischen Offiziers und keine
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