Die schoene Frau Seidenman
seiner Tage, überzeugt, er werde einem Museum im unabhängigen Polen eine schöne Gabe darbringen.
Doch sein letzter Lebenstag wurde gewissermaßen zum Spiegelbild und Kürzel seines gesamten Schicksals von Kindheit an. Denn als Junge war er flink und widerborstig gewesen, hatte abends Birnen im Pfarrgarten gestohlen und nie längere Zeit an einer Stelle sitzen können. So war es auch an jenem Morgen, als er unruhig und bedrückt erwachte. Er lief ziellos durch seine Zimmer, trat trotz des Regenwetters auf den Balkon, kehrte in den Salon zurück, um sich kurz darauf im Parterre, in seinem ›Atelier‹ zu zeigen, wo die übliche, alltägliche Arbeit weiterlief, stieg dann wieder die Treppe in den zweiten Stock hinauf und lief durch die Zimmer – irgendwie unvernünftig, innerlich aufgebläht und doch leer, seltsam begierig nach der Welt und ihren immer noch verborgenen Geheimnissen.
Gegen Mittag trat er gewissermaßen in sein Jünglingsalter ein. Er marschierte mit elastischen und munteren Schritten zum Ogród Saski, was manche Passanten verwunderte, weil sie einen kleinen Mann mit dunklem Paletot, gelben Schuhen und einem Spazierstock erblickten, der nach einem lächerlichen Stutzer aus einer Kleinstadt des früheren Gouvernements Płock aussah, mit etwas zu langen, schräg abgeschnittenen Koteletten, nach dem Rasieren zu stark gepuderten Backen, Ringen an den Fingern und lustig-tänzerischen, für die kurzen Beine zu langen Schritten; doch diese Beine wollten sich auf sehr männliche Weise bewegen, mit einer gewissen Grazie, zugleich mit der Sicherheit, die eine schlanke und hohe Silhouette dem Manne gibt. So ging der Schneider Kujawski, schon ein wenig beruhigt, um den Richter zu besuchen, mit ihm Meinungen über die Lage auszutauschen und ihn vielleicht zum Verkauf einer sehr schönen Miniatur aus Holz zu bewegen, die achtundsechzig Menschen- und Tiergestalten auf einem flämischen Jahrmarkt um die Mitte des 17. Jahrhunderts darstellte.
Aber er erreichte nicht sein Ziel, denn auf der Niecała-Straße steckten ihn Gendarmen in die grüne Minna, und als er zu beweisen versuchte, er nähe Hosen für alle deutschen höheren Offiziere, bekam er eins mit dem Kolben über den Rücken, daß es ihm den Atem verschlug, im Kopf schwindelte und er sofort verstummte. So trat er gewissermaßen in sein reifes Alter ein. In der Zelle verhielt er sich schweigsam, er äußerte sich nur, wenn er die Hoffnung hegte, seine Zellengenossen zu trösten oder zu beruhigen. Er wußte bereits, daß ihm bestimmt war, an der Wand eines Warschauer Hauses zu sterben. Er kannte die Prozedur der öffentlichen Erschießungen, die seit einiger Zeit in der Stadt wüteten. Daß er sich vor dem Tode fürchtete, steht fest, aber seine persönliche Würde gestattete ihm nicht, die Angst nach außen zu zeigen.
Die Nacht verbrachte er im Gebet und in Gedanken über die Welt. So begann gewissermaßen sein hohes Alter, das er nicht erlebt hatte, als er noch der Schneider auf der MarszałkowskaStraße gewesen war, denn da zählte er erst vierzig Jahre und hegte große Zukunftshoffnungen. In der letzten Nacht nahm er von allen Hoffnungen Abschied. Er begrüßte das Morgenlicht heiter und ruhig. Dieser ganz gewöhnliche Schneider, der banalste Mensch unter der Sonne, offen gesagt, ziemlich komisch und angeberisch in seiner billigen Eitelkeit, vielleicht gar unklug, dieser Mann, der insgeheim glaubte, gegen Rheumatismus sei es das beste, mit einer Katze im Bett zu schlafen, weil der Rheumatismus nach einiger Zeit in die Katze übergehe und die schmerzenden Glieder restlos verlasse, dieser gewöhnliche, einfache Mensch aus dem früheren Gouvernement Płock, der als Kind die Verse hergesagt hatte: ›Wer bist du denn? Ein kleiner Pole, der weiße Adler die Parole‹, der die Juden nicht besonders mochte, die Moskowiter nicht ertragen konnte, die Deutschen ängstlich verachtete und von anderen Menschen wenig oder gar nichts wußte, dieses christliche Schneiderlein, der mit den Ballen jüdischen Cheviots ein Vermögen gemacht und dann auf naive Weise von einer erhabenen Rolle als Mäzen der Künstler geträumt hatte, erlebte wenige Stunden vor seinem Tod das Wunder der Einweihung. Er sah die bislang verborgenen Dinge nun ganz deutlich, in ihrem vollen Wesen und Sinn, in ihrer Vergänglichkeit. Doch auch dieses Wunder war ein wenig banal wie letztlich alles, was den Schneider Kujawski anbetraf. Es ist allgemein bekannt, daß die große Weisheit am Ende
Weitere Kostenlose Bücher