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Die schoene Frau Seidenman

Die schoene Frau Seidenman

Titel: Die schoene Frau Seidenman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrzej Szczypiorski
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den anständigen Menschen geschenkt und den Schurken genommen wird. Denn was ist diese größte und geheimste Weisheit des Menschen anderes, als das Gute gut zu nennen und das Böse böse? Und genau darin übertraf der gewöhnliche Schneider, dessen Schere einen so großartigen Schnitt hatte, viele spätere Philosophen und Propheten. Doch auch ohne diesen großartigen Schnitt hätte er sie alle übertreffen, weil er in seinem Herzen das Maß der Gerechtigkeit, Güte und Nächstenliebe trug. Als er an der Wand eines Warschauer Hauses starb, starb er sehr würdevoll und schön, nachdem er zuvor seinen Mördern vergeben hatte, weil er wußte, daß auch sie sterben würden und der Tod die Schande nicht von ihnen abwaschen würde. Er vergab allen Menschen und der ganzen Welt, die er für schlecht geordnet und den Absichten Gottes zuwiderhandelnd hielt. Er wollte eine Welt, in der jeder ein freier Mensch sein sollte, ohne Rücksicht auf Rasse, Nationalität, Weltanschauung, Form der Nase, Lebensweise und Schuhgröße. Sogar an die Schuhnummer dachte er damals, weil er nicht mit philosophischen Kategorien operierte, sondern mit dem Reichtum seiner banalen und vielleicht sogar törichten Beobachtungen aus der Perspektive eines Schneiders, der für Hosen Maß nimmt. Doch was nützte es, auch wenn er tiefer blickte als jene prophetischen Erretter und Weltverbesserer, die nach ihm kommen sollten, um die Menschen erneut zu prügeln, ihre Herkunft wenn nicht die rassen-, so zweifellos die klassenmäßige zu erschnüffeln und ihnen Halsbänder umzulegen wie den Bären, damit sie tanzten, was ihnen die siegreiche russische Harmonika in der Europa durchrasenden, mächtigen, zügellosen Gogolschen Troika vorspielte.
      Er starb an der Hauswand, und als die Henkersknechte seinen Körper auf den Lastwagen geworfen und weggefahren hatten, tauchte eine Frau ihr Taschentuch in das auf dem Bürgersteig gerinnende Blut und nahm es mit als Siegel menschlichen Märtyrertums.
    So ging er in das Pantheon der Nationalhelden ein, obwohl er
    das nie gewünscht hatte und ihm im letzten Augenblick nicht einmal der Gedanke durch den Kopf geschossen war, er sei ein Held. In diesem letzten Augenblick wußte er, daß er ein ordentlicher Mensch war, der der Welt, den Nächsten Gutes wünschte, aber auch Polen, das er auf seine hinterwäldlerische Weise sein ganzes Leben lang geliebt hatte. Doch er wußte nicht, daß er ein Held werden würde, und hätte er es gewußt, so hätte er den entschiedenen Wunsch geäußert, man möge ihn streichen. Hinterher war es bereits zu spät! Seinen Freiheitsidealen widersprechend und sein schlichtes Schneiderleben verspottend, erhob man seinen Tod als Beispiel und Vorbild zu den Altären. Aber nie wurde definitiv geklärt, worin eigentlich dieses Beispiel bestand. Immerhin war er mit der Absicht in die Stadt gegangen, einen Spazierweg durch den Ogród Saski zu machen. Sollten diese Spazierwege ein Beispiel sein? Oder vielleicht die Methode, mit der er die Schere führte? Oder seine Liebe zu falschen Wappenringen? Das wurde nie geklärt. Nur sein Tod sollte zählen, als hätte der Tod, abgetrennt von dem Leben, das ihm vorausgegangen ist, irgendeine Bedeutung.

11
    P arteigenosse Stuckler, ich wäre nicht hergekommen, um mich mit Ihnen um irgendeine Jüdin zu streiten.«
      »Das ist ein zuverlässiger Informant«, antwortete Stuckler. »Er hat jahrelang bei Warschauer Juden verkehrt und kennt sie gut…«
      »Vielleicht kennt er die Juden, Parteigenosse Stuckler, doch diese Person gehört zum Kreis meiner alten Freunde.«
      Stuckler strich sich die Schläfenhaare glatt. Er richtete seinen ruhigen, ein wenig müden Blick auf Müller.
      »Auch falls es eine Offizierswitwe ist«, sagte er weich, »was passiert Schlimmes, wenn wir sie festhalten?«
      »Ich bin nicht wegen einer polnischen Offizierswitwe gekommen, sondern wegen meiner guten Bekannten«, sagte Müller mit Nachdruck. »Gegen diese Frau liegt nichts vor. Sie ist durch einen Irrtum hierhergeraten.«
      »Das kann ich nicht ausschließen«, antwortete Stuckler und hob den Telefonhörer ab.
      Mit leiser Stimme gab er den Auftrag, Maria Magdalena Gostomska herzubringen. Er legte den Hörer auf und wandte sich an Müller.
      »Parteigenosse Müller«, sagte er. »Ich bewundere Sie. Ich bin erst ein paar Monate in dieser Stadt und fühle mich schon erschöpft. Es bedarf eines besonderen Charakters, um sich an die polnische Umgebung zu

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