Die schoene Frau Seidenman
gewöhnen.«
»So viele Jahre«, entgegnete Müller, »fast mein ganzes Leben habe ich hier verbracht. Die Polen sind nicht die schlechtesten. Unter uns gesagt, sind manche von ihnen jetzt etwas enttäuscht.«
»Enttäuscht?« wiederholte Stuckler gedehnt.
»Es gab hier viele, die jahrzehntelang auf uns gezählt haben. Sie fühlten sich uns näher als den Moskowitern. Man nennt die Russen hier oft Moskowiter. Nun ja, ich habe mit Politik nichts zu tun, aber eine zu große Strenge ihnen gegenüber scheint mir nicht richtig. Besonders jetzt, angesichts der Kriegsereignisse.«
»Es sind Slawen«, sagte Stuckler.
Müller räusperte sich. Wie wird sie sich verhalten? dachte er. Ist sie geistesgegenwärtig genug, um unser gemeinsames Spiel zu verstehen? Er spürte Feuchtigkeit im Genick. Ich spiele mit hohem Einsatz, dachte er. Und sie mit dem höchsten. Wenn sie nur spielen kann, wie es nötig ist.
Stuckler lächelte blaß.
»Eine entsetzliche Stadt«, sagte er. »Eine wilde Stadt. In einer Woche fahre ich in Urlaub.«
»Wohin?« fragte Müller. Seine Zunge war steif.
»Nach Hause«, antwortete Stuckler. »Ich komme aus Saalfeld in Thüringen.«
»Eine sehr schöne Gegend«, sagte Müller.
Stuckler nickte und schloß die Augen.
Ich muß heftig aufspringen. Viel reden, laut. Mit einem Schrei des Erstaunens und der Freude auf sie zugehen. Und wenn sie nicht deutsch kann? In dieser Situation kann ich sie nicht auf polnisch anreden…
»Ich reite gern«, sagte Stuckler. »Ich mache Ausflüge zu Pferde. Das beruhigt sehr.«
»Hier auch?«
»Leider sehr selten. Ich kann mir nicht viel Freizeit und Vergnügungen erlauben.«
»Der Dienst«, meinte Müller mit einem Seufzer. »Im Grunde ist das hier auch Front.«
»Ja. Das ist die Front.«
Wird man sie zusammen mit einem Dolmetscher hereinführen? Ich habe einen Fehler gemacht, ich habe nicht aus ihm herausgefragt, ob sie deutsch kann. Wenn ich sie polnisch anrede, wecke ich Verdacht. Ich weiß zu wenig von dieser Frau.
»Aber jetzt werde ich mich erholen«, sagte Stuckler. »Vielleicht sogar ein paar Heilbäder. Wissen Sie, Parteigenosse Müller, daß es bei uns in Saalfeld zahlreiche Mineralquellen gibt?«
»Davon habe ich noch nicht gehört«, antwortete Müller. »Wirken die auch bei Magenerkrankungen?«
Ich werde aufspringen und ausrufen, ich fühlte mich gekränkt. Warum haben Sie sich nicht auf mich berufen, gnädige Frau?
»Das auch«, entgegnete Stuckler, »hauptsächlich aber kräftigen sie den Organismus. Ich fühle mich in letzter Zeit so erschöpft. Ob das die Nerven sind?«
»Verwunderlich wäre es nicht, Parteigenosse Stuckler.«
Die Tür ging auf, und Müller empfand eine ohnmachtsähnliche Schwäche. Ins Zimmer trat eine gut aussehende Blondine in grauem Straßenkostüm, elegant, schlank, mit blasser Hautfarbe und riesengroßen blauen Augen. Hinter ihr tauchte ein dicklicher SS-Mann auf. Müller erhob sich.
»Sich nicht auf den alten Johann Müller zu berufen, liebe gnädige Frau, ist wirklich kaum zu begreifen!«
Jesus Christus, betete er, Jesus Christus!
»Ich wußte, es ist ein Irrtum, Herr Müller«, antwortete sie ruhig und flüssig auf deutsch. »Ich wollte Sie nicht beunruhigen.«
»Liebe Frau Gostomska!« rief er aus.
Er blickte ihr nicht in die Augen, sondern etwas höher, über ihren Kopf hinweg, immer noch in der Furcht, etwas Entsetzliches könne passieren.
Stuckler saß reglos hinter seinem Schreibtisch. Plötzlich fragte er: »Sie heißen Gostomska? Witwe eines polnischen Offiziers?«
»Natürlich«, antwortete sie.
»Irrtümer kommen vor«, sagte Stuckler. »Aber wir berichtigen unsere Irrtümer.«
Auf der Straße hakte er sie unter. Sie gingen schnell und im Gleichschritt. Der grauhaarige, rotbackige, untersetzte Mann und die größere, schlanke, hübsche Frau.
»Ich verstehe überhaupt nichts«, sagte sie. »Mir ist ganz schwach.«
»Wir können polnisch reden«, entgegnete er. »Auf der Koszykowa-Straße ist eine Konditorei, da gehen wir hin.«
Sie sahen aus wie ein seltsames Paar auf einem seltsamen, viel zu schnellen Spaziergang. Er erzählte ihr, auf welche Weise er zu Stuckler gekommen war.
»Mein Gott«, seufzte Irma Seidenman. »An Herrn Filipek erinnere ich mich kaum.«
Es kam ihr vor, als ginge sie untergehakt mit ihrem Mann, Dr. Ignacy Seidenman, denn schließlich hatte er sie aus dem Käfig bei der Gestapo
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