Die schöne Mätresse
Refugium eingerichtet. Abgesehen von den Zimmermädchen erlaubte er niemandem Zutritt zu diesem Raum, nicht einmal seiner Mutter.
Wie viele Stunden hatte er schon damit verbracht, sehnsüchtig auf dieses Gemälde zu blicken und seinen Erinnerungen nachzuhängen?
Als er einmal unerwartet früh nach Hause gekommen war, hatte er seine Mutter dabei ertappt, wie sie es durch die offene Tür musterte. Sie war schnell in einen anderen Raum gegangen, bevor er sie barsch wegschicken konnte.
Evan ließ noch einmal das Gespräch mit Mr. Manners Revue passieren.
Der neue Salon gedieh prächtig, und Emily hatte bereits eine beachtliche Anzahl an Aufträgen erhalten. Soweit Manners wusste, gab es keine Probleme mit dem Haus oder dem Laden.
Evan hatte den Anwalt sogar bedrängt, ihre Erscheinung, sogar ihr Kleid zu beschreiben. Nach einem verwunderten Blick auf seinen Klienten hatte Manners erklärt, sie habe etwas Violettes getragen. Außerdem habe sie etwas blass, aber gefasst gewirkt.
Evan seufzte. So gerne er auch über sie sprach, Manners’ Beschreibungen waren viel zu sachlich.
Wie sehr er sie immer noch vermisste – sogar ihre Gespräche, die sie stets beim Tee über die Ereignisse des Tages geführt hatten. Er wagte es nicht, sich an intimere Dinge zu erinnern.
Evan fragte sich, wie er es über sich bringen sollte, Andrea zur Frau zu nehmen.
Rasch verdrängte er diese unangenehme Frage und konzentrierte sich wieder auf das neue Geschäft.
Es gab einige Details, die der Anwalt nicht in Erfahrung gebracht hatte. Die Vorbestellungen sind ein kluger Schachzug, dachte er anerkennend. Sollte sie eine zusätzliche Schneiderin anstellen, damit sie mit der Belieferung der Kunden nicht in Verzug geriet?
Er konnte Manners noch einmal zu ihr schicken, doch ihre Antworten würden nur neue Fragen aufwerfen.
Plötzlich kam ihm eine Idee. Er war ihr stiller Teilhaber. Und er verfügte über eine gewisse Erfahrung im Geschäftsleben, jedenfalls mehr als sein Anwalt. Warum sollte er ihr nicht selbst einen Besuch abstatten? Natürlich rein geschäftlich, verstand sich.
Sein lange unterdrücktes Verlangen kehrte mit einem Schlag zurück, und er sprang von seinem Stuhl auf. Am liebsten wäre er sofort zu ihr geeilt.
Doch zuvor musste er sich alles genau überlegen, also setzte er sich wieder. Sollte er ihr eine Nachricht schicken? Nein, vielleicht würde sie ihn dann nicht empfangen, und eine Zurückweisung würde er nicht ertragen.
Am besten war es, wenn er sie während der normalen Geschäftsstunden aufsuchte. Um diese Zeit hatte sie schließlich Termine mit Lieferanten oder Kundinnen, warum also nicht auch eine Unterredung mit ihrem Geldgeber?
Schnell blickte er zur Uhr hinüber und stieß einen leisen Fluch aus. Für heute war es bereits zu spät.
Wie viele Stunden waren es noch bis zur Öffnung des Salons am nächsten Morgen?
Wieder sprang er auf, durchquerte den Raum und blieb unter dem Gemälde stehen. Zum Glück musste er seine Familie heute Abend nicht auf irgendeinen Ball begleiten. Er konnte ungestört in seinem Refugium bleiben.
Oder vielleicht seinen Club besuchen. Seine Aufregung bewirkte, dass er sich in dem kleinen Raum plötzlich unwohl fühlte. Am liebsten wäre er ausgeritten, aber leider wurde es schon dunkel.
Also begab er sich in den Club. Der Abend war einigermaßen erträglich. Das Dinner war annehmbar, obwohl er von den einzelnen Gerichten kaum etwas schmeckte, und er verlor einige Partien Whist, ohne sich hinterher auch nur vage an den Spielablauf zu erinnern. Warum hatte er das Kartenspiel, das Trinken und die endlosen politischen Diskussionen nicht immer schon als langweilig empfunden?
Es war beinahe Mitternacht, als er seinen Curricle von St. James aus nach Norden steuerte. Seine Hände schienen ihren eigenen Willen zu haben, als sie die Pferde westlich um den Hyde Park, dann wieder südlich auf den Fluss zulenkten.
Zu einem kleinen, eleganten Stadthaus.
Er zügelte die Pferde und sah zu einem der Fenster hinauf, hinter dem Licht flackerte. Sein Herz setzte einen Schlag aus.
Er würde sie morgen sehen. Sicher konnte er noch so lange warten. Es war unklug, nein, Wahnsinn, sie heute Nacht noch aufzusuchen.
Würde sie ihn überhaupt empfangen?
Doch bevor er den Gedanken beenden konnte, hatte er bereits die Zügel an einen Pfosten gebunden. Er erklomm die Treppe und betätigte den Türklopfer. Dann wartete er mit angehaltenem Atem.
12. KAPITEL
E ntgeistert blickte Emily den schläfrigen
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