Die schoene Tote im alten Schlachthof
wusste nicht, wie lange er geschlafen hatte.
Ein kurzes, aber lautes Klopfen an der Zimmertür hatte ihn geweckt. In der
offenen Tür stand de Boer mit Tränen in den Augen.
»Entschuldige, Rudi, aber ich bin einfach froh, dich zu sehen. Als
ich den Schuss gehört habe, dachte ich im ersten Moment, du wärst tot. Es war
so schrecklich.«
Ferschweiler hatte seinen Assistenten noch nie so am Boden zerstört
gesehen. »Erzähl mir, was passiert ist«, bat er de Boer. »Ich habe fast keine
Erinnerung daran.«
Als der Holländer die Ereignisse zu schildern begann, fiel auch
Ferschweiler langsam wieder ein, was vorgefallen war. Vor seinem inneren Auge
sah er, wie er Kafka verfolgt und wie sie dann auf der Brücke miteinander
gerungen hatten.
»Der Schuss, wer hat den abgegeben?«, fragte er de Boer. »Du?«
De Boer schaute verlegen zu Boden, dann antworte er: »Das war Tessy
Contz. Sie wollte eigentlich Kafka treffen. Aber ihr habt miteinander gekämpft …
Und im falschen Augenblick hast du dich dann wohl genau in ihre Schussbahn
gedreht.«
De Boer machte eine kurze Pause. Dann richtete er sich stolz zu
voller Sitzgröße auf.
»Die Presse ist übrigens ganz aus dem Häuschen. So einen Skandal hat
es hier bisher wohl nur selten gegeben. Ich habe dir das ›Luxemburger Wort‹ von
heute mitgebracht.«
Er reichte Ferschweiler die Zeitung. In großen Lettern prangte die
Schlagzeile »Skandal in zukünftiger Luxus-Kunstschule« auf der Titelseite.
Darunter war ein Foto, das mehrere Polizisten zeigte, die einen Zinksarg in
einen Leichenwagen schoben.
Jetzt waren die Erinnerungen wieder vollständig da.
»Sag Tessy Contz doch bitte, dass ich ihr nicht böse bin. Na ja,
vielleicht sollte sie zukünftig auf den Einsatz ihrer Dienstwaffe verzichten«,
fügte er grinsend hinzu. »Schließlich ist sie eher eine Meisterin im Umgang mit
ganz anderen Waffen.«
»Mensch, Rudi.« Der Holländer wirkte trotz des platten Witzes seines
Chefs sichtlich erleichtert. »Ich bin so froh, dass nichts Schlimmeres passiert
ist und du noch der Alte bist. Der Steckschuss in deiner Schulter ist bestimmt
schnell verheilt. Übrigens hat auch schon Dr. Süß angerufen und uns gratuliert.
Er ist sehr zufrieden mit dir, und sogar der Oberstaatsanwalt lässt dir Grüße
ausrichten.«
Ferschweiler nickte geistesabwesend. Etwas ließ ihn nicht los. Er
spürte dieses Gefühl in der Magengegend, das ihm sagte, dass irgendetwas nicht
stimmte.
»Ich hätte Kafka allerdings gern vor Gericht und anschließend hinter
Schloss und Riegel gesehen«, sagte er nach einem Moment des Schweigens.
Nachdenklich sah er aus dem Fenster seines Krankenzimmers. Draußen
bewegten sich die kahlen Wipfel einiger Bäumen im heftigen Novemberwind hin und
her.
»Ja, ich auch«, sagte der Boer. »Und er wäre auf jeden Fall lebenslänglich
eingefahren. Die KTU hat in dem Versteck in der
Akademie auch den Spaten gefunden, mit dem Ulrike Kinzig, ihr Hund und auch
Thomas Gorges erschlagen worden sind. Die kriminaltechnischen Untersuchungen
sind mittlerweile abgeschlossen. Es besteht kein Zweifel: Das Blut am Blatt des
Spatens stammt von Gorges sowie von der Kinzig. Kafka sind in Roscheid wohl die
Sicherungen durchgebrannt – obwohl er auch dort alles bis ins Kleinste
geplant hatte. Die Zigarettenstummel müssen allerdings tatsächlich aus Ulrike
Kinzigs Jackentasche gefallen sein, genauso wie Dr. Quint es gesagt hat.« De
Boer zog sein Smartphone samt Kopfhörer aus der Jackentasche.
»Aber wieso hätte Ulrike Kinzig eine falsche Spur legen sollen?
Warum sollte sie Kafkas Kippe neben den Leichnam von Melanie Rosskämper gelegt
haben?« Ferschweiler fasste sich mit der freien Hand an seine schmerzende
Beule.
»Ich habe da etwas, das du dir unbedingt anhören solltest. Wir haben
in Kafkas Büro in Waldbillig den Laptop von Ulrike Kinzig sicherstellen können.
Kafka muss ihn bei seinem letzten Besuch bei Rolf Kinzig in Roscheid
mitgenommen haben. Wir haben Kinzig inzwischen noch einmal befragt, und er hat
zugegeben, dass Kafka am Tag nach dem Tod seiner Frau bei ihm gewesen ist.
Wahrscheinlich war Kinzig da wieder hackenstramm und hat deshalb nicht
mitbekommen, dass Kafka das Gerät mitgenommen hat. Er war übrigens, du kannst
es dir bereits denken, lila.« De Boer musste schmunzeln. »Schorsch hat auf dem
Rechner eine Aufnahme gefunden, die am späten Abend von Melanie Rosskämpers Tod
aufgenommen worden ist. Hör einfach mal zu. Dann wird dir einiges klarer.«
Er
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