Die schoene Tote im alten Schlachthof
Ebenso
die Müdigkeit.«
Sie reichte ihm ein Glas sprudelndes Mineralwasser.
»Jetzt trinken Sie erst einmal einen Schluck, und dann ruhen Sie
sich weiter aus. In ein paar Stunden wird es Ihnen schon wieder viel besser
gehen.« Mitfühlend tätschelte ihm die rundliche Schwester die Hand. Sie sprach
eindeutig mit luxemburgischem Akzent, das war Ferschweiler trotz seiner
körperlichen Schwäche nicht entgangen.
Nachdem sie ihm ein weiteres Glas Mineralwasser in Reichweite
hingestellt hatte, verließ die Schwester den Raum. Wieder allein versuchte
Ferschweiler sich zusammenzureimen, was passiert war. Man hatte ihn operiert,
so viel stand fest. Aber weshalb er hier und nicht bei den Barmherzigen Brüdern
in Trier lag, das war ihm nicht klar. Er hätte die Schwester fragen können,
aber sie war so schnell wieder verschwunden, wie sie gekommen war.
Nur bruchstückhaft kehrte allmählich die Erinnerung zurück. Ferschweiler
hoffte inständig, dass seine Gedächtnislücken nur von kurzer Dauer sein würden.
Er erinnerte sich noch an Kafkas Kunstakademie und daran, wie er ihm durch den
Wald gefolgt war, und dann war da irgendetwas mit einer Brücke gewesen, aber
was?
Während er darüber nachdachte, schlief er wieder ein.
***
Als de Boer am nächsten Morgen das Büro betrat, wunderte
er sich über die Anzeige auf dem Display seines Telefons, das ihm
siebenunddreißig entgangene Anrufe anzeigte. Noch bevor er sich setzen konnte,
klingelte der Apparat erneut. De Boer kannte die angezeigte Nummer, sie gehörte
der KTU . Es nahm den Hörer ab.
»Hallo, Wim«, begann Wingertszahn-Lichtmeß in vorwurfsvollem Ton,
»dich zu erreichen ist ja wirklich eine Wissenschaft für sich. Ich habe gestern
Nachmittag zigmal bei dir angerufen, aber anscheinend hielt es keiner für
nötig, mal ans Telefon zu gehen.«
»Schorsch«, sagte de Boer ruhig, »was gibt es denn? Rudi ist noch in
Luxemburg im Krankenhaus.« Er rieb sich seine müden Augen und überging
geflissentlich die Befindlichkeiten seines Kollegen.
»Was? Das wusste ich nicht. Hab anscheinend nur die Hälfte
mitgekriegt«, wurde Schorsch nun freundlicher – de Boer meinte sogar einen
besorgten Unterton wahrnehmen zu können. »Tut mir leid. Was ist denn genau
passiert? Wie geht es ihm?«
»Lange Geschichte. Aber was Rudi angeht: Ein Schuss in die Schulter
ist halt nicht ganz ohne, Schorsch«, antwortete de Boer. »Und die schwere
Gehirnerschütterung, die er sich auch noch zugezogen hat, tut ihr Übriges. Aber
er befindet sich auf dem Weg der Genesung.«
»Gott sei Dank, da bin ich aber froh«, sagte Schorsch, und de Boer
glaubte diesmal sogar echte Betroffenheit herauszuhören.
»Also, Schorsch, warum wolltest du mich sprechen?«
»Also, pass auf«, sagte Schorsch nach einer für die meisten
einheimischen Kollegen in wichtigen Situationen typischen Sprechpause. »Wir
haben uns den Rechner von Ulrike Kinzig angesehen, den du bei eurer Aktion
gestern in Waldbillig in Kafkas Büro sichergestellt hast. Wir haben darauf erst
einmal eine Menge Musikdateien und Fotos gefunden, alles nichts
Außergewöhnliches. Bilder von diversen Reisen nach Mallorca oder Gran Canaria
und so. Besonders interessant waren die Fotos von einem FKK -Urlaub
in Südfrankreich. Der echte Wahnsinn. Solche Berge habe ich noch nie gesehen.«
De Boer fand, dass der Kriminaltechniker langsam mal bei seiner
Mutter ausziehen sollte. »Schorsch, komm verdammt noch mal zur Sache«,
unterbrach er den Redefluss seines Kollegen.
»Sei doch nicht immer gleich so gereizt«, seufzte
Wingertszahn-Lichtmeß. »Du wirst schon langsam genauso launisch wie der Rudi.
Also, ich wollte dir eigentlich schon sagen, dass der Rechner sauber sei, aber
dann habe ich mir gedacht, ich sollte mir die einzelnen Musikdateien noch
einmal näher anhören. Und eine davon dürfte dich sehr interessieren. Ich würde
vorschlagen, du kommst gleich mal bei mir im Labor vorbei.«
»Was ist das für eine Datei?«, fragte de Boer.
»Es handelt sich um den Mitschnitt eines Gesprächs. Hochinteressant,
sag ich dir. Glaub mir, es dürfte wirklich das Beste sein, wenn du mal eben bei
mir vorbeikommst, damit ich es dir vorspielen kann.«
»Du machst es spannend. Also gut, ich komme«, entgegnete de Boer.
Kurz darauf verließ er das Gebäude, um zum alten Präsidium gegenüber
den Kaiserthermen zu fahren. Die KTU hatte dort
noch immer ihre Labors und Werkstätten. Er brauchte keine fünf Minuten, der
Alleenring war frei.
***
Ferschweiler
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