Die Schöne und der Tod (1)
nicht. Der Weg zurück in seine Wohnung ist zu weit, er hat keine Kraft mehr, die Stiege ist zu steil, die Tür zu seiner Wohnung zu weit weg. Er starrt geradeaus. Zwei Stunden lang, gelähmt im Treppenhaus, Max. Nur wie er dasitzt und spürt, dass alles kaputt ist. Nur seine Augen, wie sie geradeaus schauen. Wie sie auf und zu gehen, nichts mehr sehen, nur noch traurig sind. Bis er die Hand spürt in seinem Gesicht.
Kattnig, plötzlich seine flache Hand. Wie Max aufschrickt, die Augen weit aufreißt. Zwei Stunden hat er sich nicht bewegt, zwei Stunden lang war da nichts, nur Fragen. Warum ist er nicht zur Arbeit gekommen? Warum hat er getrunken? Warum barfuß? Hat er Marga ausgegraben? Wo ist sie? Warum ist Emma verschwunden? Hätte er sich mehr um sie kümmern sollen? Wo war der Junge in den letzten zwei Tagen? Warum hat sie mit ihm geschlafen? Warum ist er so lange bei Baroni gesessen, warum ist er nicht zurück zu ihr? Warum hat er nicht besser auf den Jungen aufgepasst? Wo ist die Leiche? Warum muss er wieder ein Grab schaufeln? Warum schon wieder jemand, den er mochte? Warum Kattnig?
Wie er zuschlägt. Wie Max begreift, was passiert, wie er ihn anstarrt, fassungslos. Wie er dasitzt und sich nicht wehrt. Kattnig, wie er vor ihm steht und auf Max einredet. Wie Max ihn anstarrt. Kattnigs Wut, wie sie Max zurück in die Welt holt. Wie Kattnig ihn noch einmal schlagen will, wie Max aufspringt, sich wehrt. Kattnig ringt Max nieder, drückt ihn zu Boden, er kniet sich auf seinen Rücken, zwingt ihn, ruhig zu bleiben. Max will um sich schlagen, den Fotografen von sich werfen, er will treten, beißen, verletzen. Kattnig hält ihn. Max brüllt. Zuerst laut, Wörter, Namen, dann nur noch Wut, Schmerz, hilflos, verzweifelt. Wie das Schwein, das kurz davor ist, geschlachtet zu werden. Zwei Minuten lang, drei. Und dann, wie es wieder ruhig wird im Stiegenhaus. Wie Kattnig von ihm heruntersteigt, wie Max sich aufrichtet, atmet. Max und Kattnig auf der Treppe, nebeneinander.
– Warum schlägst du mich?
– Die Briefe.
– Dennis ist tot.
– Du sollst mir die Briefe zurückgeben, sonst schlage ich noch einmal zu. Warum hast du sie genommen?
– Der Junge ist tot, tot, verstehst du?
– Warum du sie genommen hast, will ich wissen.
– Weil ich wissen wollte, was drinsteht.
– Wie oft soll ich dir noch sagen, dass ich sie nicht ausgegraben habe. Warum geht das nicht in deinen kranken Kopf, du arroganter kleiner Scheißkerl.
– Sie liegen oben am Boden.
– Und Marga?
– Sie ist tot. Genau wie Dennis. Einfach tot.
– Der junge Gemeindearbeiter?
– Genau der.
– Was ist mit ihm?
– Erfroren. Am Dorfplatz. Heute Nacht.
– Das tut mir leid.
– Hol dir deine Briefe und hau ab.
– Du glaubst mir?
– Ich glaube gar nichts.
– Du musst mir glauben.
– Ich muss zu ihm.
Kattnig nimmt die Briefe und geht. Max steht auf, er muss zurück zum Dorfplatz, er muss Tilda anrufen, er muss etwas tun. Er duscht kalt, zieht sich warm an, schlägt sich ins Gesicht. Er steht vor dem Spiegel und schlägt zu. Links und rechts, seine Hand auf den Wangen, sie sollen ihn aufwecken, er will klar denken, er will wissen, was passiert ist. Dass Dennis einfach erfroren ist, das kann nicht sein, dass er sich einfach betrunken hat, so hemmungslos, dass er sich seine Schuhe ausgezogen hat, dass er einfach erfroren ist. Nicht Dennis. Man musste ihn überreden zu einem gemeinsamen Bier. Alkohol war ihm nicht wichtig, er brauchte ihn nicht. Max hatte sich manchmal geschämt vor dem Jungen, dass er sich gehen ließ an manchen Tagen, sich einfach so betrank. Dennis hätte sich niemals mit einer Flasche Schnaps auf die Bank gesetzt.
Max sucht in seiner Erinnerung nach Anzeichen, nach Momenten mit Dennis, die ihn stutzig machen hätten müssen. Was war mit dem Jungen? War ihm etwas entgangen? Was hat er übersehen? Natürlich war Dennis mit seinem Leben nicht zufrieden, wie es war, er wollte etwas anderes, er wollte mehr als Gemeindearbeiter sein, er wäre ein guter Tischler gewesen, er war begabt, er hatte noch alles vor sich gehabt. Max wollte sich immer um einen Lehrplatz für ihn kümmern, aber er fand keinen. Niemand wollte den Asozialen, die wenigen Lehrstellen, die es gab, bekamen andere. Er hat ihm versprochen, sich weiter darum zu bemühen, irgendwann würde es klappen. Jetzt ist es zu spät.
Max biegt um die Ecke auf den Dorfplatz. Alles ist wie sonst auch. Kein Dennis, keine Polizei, keine Passanten, die gaffen. Da ist
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