Die Schönen und Verdammten
so vieler Generationen von Spatzen vermerkt hat, verzeichnet zweifelsohne auch die feinsten stimmlichen Modulationen der Passagiere von Schiffen wie der Berengaria. Und zweifelsohne lauschte sie, als der junge Mann mit der karierten Mütze rasch das Deck überquerte und mit dem hübschen Mädchen in Gelb sprach.
»Das ist er«, sagte er und deutete auf die Gestalt, die zusammengekauert in einem Rollstuhl bei der Reling saß. »Das ist Anthony Patch. Das erste Mal, dass er auf Deck ist.«
[577] »Oh – ist er das?«
»Ja. Seit er sein Geld bekommen hat, vor vier oder fünf Monaten, ist er leicht gestört, sagt man. Verstehst du, der andere Kerl, Shuttleworth, dieser religiöse Zeitgenosse, der das Geld nicht bekommen hat, hat sich in einem Hotelzimmer eingesperrt und sich erschossen…«
»Hat er das wirklich…?«
»Aber ich denke, Anthony kümmert das nicht sehr. Er hat seine dreißig Millionen. Und er hat seinen Leibarzt dabei, für den Fall, dass er sich nicht wohlfühlt. Ist sie schon auf Deck gewesen?«, fragte er.
Das hübsche Mädchen in Gelb sah sich neugierig um.
»Vor einer Minute war sie noch hier. Sie hatte einen russischen Zobelpelz an, der ein Vermögen gekostet haben muss.« Sie zog die Stirn kraus und setzte entschlossen hinzu: »Ich kann sie nicht ausstehen, weißt du. Sie kommt mir so – so gefärbt und unsauber vor, falls du weißt, was ich meine. Manche Leute sehen einfach so aus, ob sie es nun sind oder nicht.«
»Ich weiß schon«, sagte der Mann mit der karierten Mütze. »Aber sie sieht nicht schlecht aus.« Er schwieg. »Worüber er wohl nachdenkt – ich schätze mal, über sein Geld, oder vielleicht hat er Gewissensbisse wegen dieses Shuttleworth…«
»Wahrscheinlich…«
Aber da täuschte sich der Mann mit der karierten Mütze sehr. Anthony Patch, der bei der Reling saß und aufs Meer hinausblickte, dachte nicht an sein Geld, denn nur selten in seinem Leben hatte er sich wirklich mit materieller Protzerei abgegeben, und auch nicht an Edward Shuttleworth, [578] denn es ist am gesündesten, auf die Sonnenseite des Lebens zu sehen. Nein – er war mit einer Reihe Erinnerungen beschäftigt, gerade so, wie ein General auf einen erfolgreichen Feldzug zurückblickt und seine Siege analysiert. Er dachte an die Unbilden, an die unerträglichen Drangsale, die er durchgestanden hatte. Man hatte versucht, ihn für die Verfehlungen seiner Jugend zu strafen. Er war rücksichtslosem Elend ausgesetzt gewesen, seine Sehnsucht nach Romantik war bestraft worden, seine Freunde hatten ihn im Stich gelassen – selbst Gloria hatte sich gegen ihn gewandt. Er war allein gewesen, allein – in allem.
Noch vor wenigen Monaten hatten die Leute ihn gedrängt nachzugeben, sich der Mittelmäßigkeit zu beugen, arbeiten zu gehen. Aber er hatte gewusst, dass seine Lebensführung gerechtfertigt war – und er hatte standhaft ausgeharrt. Dieselben Freunde, die ihn am ungnädigsten behandelt hatten – sie hatten gelernt, ihn zu respektieren, sie akzeptierten jetzt, dass er von Anfang an recht gehabt hatte. Hatten die Lacys und die Merediths und die Cartwright-Smiths ihn und Gloria nicht eine Woche bevor sie in See stachen, im Ritz-Carlton besucht?
In seinen Augen standen dicke Tränen, und seine Stimme zitterte, als er vor sich hin flüsterte.
»Denen hab ich’s gezeigt«, sagte er, »es war ein harter Kampf, aber ich habe nicht aufgegeben, sondern überlebt!«
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[579] Chronik eines Niedergangs
Der zweite Roman ist immer der schwerste. Diese Faustregel gilt für F. Scott Fitzgerald ganz besonders. Nach dem Erfolg seines Erstlings Diesseits vom Paradies, der 1920 erschienen war und ihn fast über Nacht zum Star der amerikanischen Literaturszene gemacht hatte, wollte der 23-jährige Autor sich nicht nur mit seinen Erzählungen, die in populären Magazinen erschienen, sondern auch mit einem weiteren großen Wurf im Gespräch halten. Schon zwei Jahre nach dem Erstling, am 4. März 1922, erschien der stattliche Roman Die Schönen und Verdammten.
Die Reaktionen waren gespalten. Die meisten Kritiker zeigten sich eher enttäuscht. Sie hatten ein weiteres romantisches Buch erwartet und nicht ein Werk, das als Gesellschaftskomödie beginnt, alsbald aber in die realistische Schilderung einer abschreckenden Alkoholikerkarriere kippt. Es sei, schrieben sie deshalb, ein misslungenes Buch oder allenfalls ein Übergangswerk, ein typischer Zweitling eben. Dieser Einschätzung soll hier
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