Die Schönen und Verdammten
vor, und als er von unten anrief, brachte Anthony Gloria im Fahrstuhl hinunter und begleitete sie bis an den Bordstein.
Sie sagte ihrem Cousin, wie lieb es von ihm sei, sie auf eine Spritztour mitzunehmen. »Tu doch nicht so«, erwiderte Dick unwillig. »Ist doch selbstverständlich.«
Aber er meinte durchaus nicht, dass es selbstverständlich sei, und das war etwas Seltsames. Vielen Menschen hatte Richard Caramel viele Kränkungen verziehen. Doch nie [571] hatte er seiner Cousine Gloria Gilbert eine Erklärung verziehen, die sie sieben Jahre vorher, kurz vor ihrer Hochzeit, abgegeben hatte. Sie hatte gesagt, sie beabsichtige nicht, sein Buch zu lesen.
Daran erinnerte sich Richard Caramel – sieben Jahre lang war ihm das gut in Erinnerung geblieben.
»Wann darf ich euch zurückerwarten?«, fragte Anthony.
»Wir kommen nicht zurück«, antwortete sie, »wir treffen dich um vier Uhr dort.«
»Na schön«, grummelte er. »Treffen wir uns dort.«
Oben wartete ein Brief auf ihn. Es war eine mimeographierte Mitteilung, die »die Jungs« in herablassend kumpelhafter Sprache aufforderte, den Mitgliedsbeitrag für die American Legion zu entrichten. Ungeduldig warf er sie in den Papierkorb, setzte sich, die Ellbogen auf dem Fensterbrett, hin und blickte, ohne etwas wahrzunehmen, auf die sonnige Straße hinab.
Italien – wenn der Spruch zu ihren Gunsten ausfiel, bedeutete das Italien. Das Wort war für ihn eine Art Talisman geworden, ein Land, in dem die unerträglichen Sorgen des Lebens von ihm abfallen würden wie ein altes Gewand. Zuerst würden sie zu den Seebädern fahren und in dem leuchtend bunten Menschengewühl ihren grauen Begleiter Verzweiflung vergessen. Wunderbar erneuert würde er in der Dämmerung wieder auf der Piazza di Spagna flanieren, sich zwischen dem menschlichen Treibgut dunkelhaariger Frauen, zerlumpter Bettler und asketischer Barfußmönche bewegen. Die Vorstellung italienischer Frauen erregte ihn leicht – wenn seine Geldbörse wieder schwerer wog, würde vielleicht sogar die Romantik wieder herbeifliegen und sich [572] auf ihr niederlassen – die Romantik der blauen Kanäle Venedigs, der goldgrünen Hügel Fiesoles nach dem Regenfall und die der Frauen, Frauen, die sich verwandelten, auflösten, mit anderen Frauen verschmolzen und aus seinem Leben entschwanden, aber doch immer schön und immer jung blieben.
Doch es schien ihm, als solle er eine andere Haltung einnehmen. Alles Leid, das er je verspürt hatte, aller Kummer, alle Qual verdankte sich Frauen. Es war etwas, das sie ihm, jede auf ihre Weise, antaten, unbewusst, fast beiläufig – vielleicht fanden sie ihn weichherzig und ängstlich und töteten deshalb all das in ihm, was ihre absolute Macht bedrohte.
Als er sich vom Fenster abwandte, sah er sich im Spiegel seinem Widerbild gegenüber. Mutlos betrachtete er das blasse, teigige Gesicht, die Augen mit ihren Zickzacklinien wie Rinnsale getrockneten Blutes, die gebückte und schlaffe Gestalt, deren Zusammengesacktheit ein Lehrbuchbeispiel der Lethargie war. Er war dreiunddreißig – aber er sah aus wie vierzig. Nun, das würde sich ändern.
Plötzlich schrillte die Türglocke, und er fuhr zurück, als habe man ihm einen Schlag versetzt. Dann riss er sich zusammen, ging in die Diele und öffnete die Wohnungstür. Es war Dot.
Die Begegnung
Er wich vor ihr ins Wohnzimmer zurück und verstand von der trägen Flut der Sätze, die ihr, einer nach dem anderen, gleichmäßig und in gleichbleibendem Tonfall entströmten, [573] nur hier und da ein Wort. Sie war anständig, aber schäbig gekleidet – ein irgendwie jämmerlich kleiner, mit rosa und blauen Blumen verzierter Hut bedeckte und verhüllte ihr dunkles Haar. Ihren Worten entnahm er, dass sie wenige Tage zuvor in der Zeitung einen Bericht über den Prozess gesehen und vom Schreiber des Berufungsgerichts seine Adresse erfahren hatte. Sie hatte bei ihm angerufen und von einer Frau, der ihren Namen zu nennen sie sich geweigert hatte, die Auskunft erhalten, dass Anthony nicht zu Hause sei.
Im Wohnzimmer blieb er an der Tür stehen und betrachtete sie mit einer Art benommenen Entsetzens, während sie drauflosplapperte… Seine vorherrschende Empfindung war, dass alle Zivilisation und Konvention um ihn her seltsam unwirklich war… Sie arbeite in einem Hutgeschäft in der Sixth Avenue, sagte sie. Es sei ein einsames Leben. Nach Camp Mills sei sie lange Zeit krank gewesen; ihre Mutter sei gekommen und habe sie nach Carolina
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