Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die schönsten Erzählungen (Die schönsten Erzählungen / Geschichten) (German Edition)

Die schönsten Erzählungen (Die schönsten Erzählungen / Geschichten) (German Edition)

Titel: Die schönsten Erzählungen (Die schönsten Erzählungen / Geschichten) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lew Tolstoi
Vom Netzwerk:
Kein Grashalm am Boden, kein Blättchen an den oberen Ästen der Bäume regte sich. Nur ab und zu unterbrach ein Flügelschlag in den Baumkronen oder ein Rascheln von Vögeln im Gestrüpp die Stille des Waldes. Plötzlich ertönte ein ungewöhnlicher, der Natur fremder Laut und verhallte am Rande des Waldes. Doch schon erklang dieser Laut aufs Neue und wiederholte sich nun in regelmäßigen Abständen zu Füßen eines der unbewegt stehenden Bäume. Seine Wipfel begannen seltsam zu zittern, die saftigen Blätter schienen irgendetwas zu flüstern, und ein Rotkehlchen, das auf einem der Zweige gesessen hatte, flatterte zwitschernd ein paarmal auf und ab und ließ sich, mit dem Schwänzchen wippend, auf einem anderen Baum nieder.
    Die Axtschläge nahmen einen immer dumpferen Klang an, saftige weiße Späne flogen auf das taunasse Gras, und nach jedem Hieb wurde ein leichtes Knistern hörbar. Der Baum zuckte von unten bis oben zusammen, neigte sich zur Seite und richtete sich, erschrocken in den Wurzeln schwankend, schnell wieder auf. Für einen Augenblick wurde alles still; doch dann neigte sich der Baum aufs Neue, abermals wurde in seinem Stamm das Knistern hörbar, und unter sich die Äste brechend und die Zweige niederdrückend, stürzte er mit der Krone auf die feuchte Erde. Die Axtschläge und der Widerhall von Schritten verstummten. Das Rotkehlchen stieß einen Pfiff aus und flatterte höher hinauf. Der Zweig, den es dabei mit seinen Flügeln streifte, schwankte eine Weile hin und her und erstarrte dann wie die anderen mit allen seinen Blättern. Rings um den frei gewordenen Raum prangten die übrigen Bäume noch freudiger mit ihren unbewegten Zweigen.
    Die ersten Strahlen der Sonne, die sich durch die vorüberziehenden Wolken Bahn brachen, leuchteten am Himmel auf und huschten über Erde und Himmel. Der Nebel verzog sich wallend in die Täler, das Gras erglänzte im glitzernden Tau, die durchsichtigen, blass gewordenen kleinen Wölkchen verflüchtigten sich eilig am blauen Horizont. Gleichsam losgelöst von allem, rührten sich im Dickicht die Vögel und jubilierten, als verkündeten sie etwas Glückseliges: Die saftstrotzenden Blätter bewegten sich froh und ruhig flüsternd an den Baumwipfeln, und gemessen und majestätisch rauschten die Kronen der lebenden Bäume über dem toten, dem gefällten Baum.
    1859
     

NACH DEM BALL
     
     
    »Sie sagen: Ein Mensch kann nicht von sich aus entscheiden, was recht und was unrecht ist; alles, was er tut und lässt, ist durch seine Umgebung bedingt und wird ihm von ihr aufgezwungen. Ich glaube dagegen, alles hängt von Zufällen ab. Ich kann Ihnen da auch ein Beispiel aus meinem Leben anführen.«
    So sprach der allseits hochgeschätzte Iwan Wassiljewitsch, nachdem zwischen uns die Frage erörtert worden war, ob es zur Vervollkommnung des einzelnen Menschen notwendig sei, zuvor die allgemeinen Lebensbedingungen zu ändern. Zwar hatte niemand von uns gesagt, ein Mensch könne nicht selbständig entscheiden, was recht und was unrecht sei, doch es gehörte zu Iwan Wassiljewitschs Gepflogenheiten, Fragen zu beantworten, die ihm im Laufe eines Gesprächs in den Sinn gekommen waren, und in diesem Zusammenhang Vorkommnisse aus seinem eigenen Leben zu erzählen. Im Eifer des Erzählens – er schilderte immer alles sehr offenherzig und wahrheitsgetreu – wich er allerdings oft erheblich vom ursprünglichen Thema ab.
    Das tat er auch diesmal.
    »Ja, ich werde Ihnen etwas erzählen, was ich selbst erlebt habe. Mein Leben ist nicht durch allgemeine Verhältnisse, sondern durch etwas ganz anderes bestimmt worden.«
    »Und was war das?«
    »Das ist eine lange Geschichte. Um Ihnen alles verständlich zu machen, muss ich weit ausholen.«
    »Ach, erzählen Sie doch!«
    Iwan Wassiljewitsch dachte ein wenig nach und nickte dann.
    »Ja«, sagte er, »mein Leben hat während einer einzigen Nacht, oder vielmehr eines einzigen Morgens eine grundlegende Wendung genommen.«
    »Und wie kam das?«
    »Das hing damit zusammen, dass ich damals bis über beide Ohren verliebt war. Verliebt bin ich mehr als einmal gewesen, aber das war die heißeste Liebe, die ich jemals empfunden habe. Doch das gehört der Vergangenheit an: Das junge Mädchen, das ich damals liebte, hat jetzt selbst schon verheiratete Töchter. Sie hieß B…, ja, Warenka B…«, Iwan Wassiljewitsch nannte den Namen, »und war auch noch mit fünfzig Jahren eine ungewöhnlich schöne Frau. Aber in ihrer Jugend, als achtzehnjähriges

Weitere Kostenlose Bücher