Die schönsten Erzählungen (Die schönsten Erzählungen / Geschichten) (German Edition)
heran.
»Du willst nie das tun, worum ich dich bitte«, sagte sie mit matter, unwilliger Stimme.
Der Mann beugte sich zu ihr hinab und hörte sie geduldig an.
»Was meinst du, Liebste?«
»Wie oft habe ich gesagt, dass all die Ärzte nichts taugen! Es gibt einfache Heilkundige, die helfen können. . . Auch der Beichtvater sagte … ein Bürger … Lass ihn holen!«
»Wen, Liebste?«
»Mein Gott! Nichts will er verstehen …« Und die Kranke verzog unwillig das Gesicht und schloss die Augen.
Der Arzt trat an sie heran und fühlte ihr den Puls. Er wurde merklich schwächer und schwächer. Der Arzt machte dem Mann ein Zeichen mit den Augen. Die Kranke bemerkte es und fuhr erschrocken auf. Die Kusine wandte sich ab und weinte.
»Weine nicht, quäle nicht dich selbst und mich«, sagte die Kranke. »Das raubt mir die letzte Ruhe.«
»Du bist ein Engel!«, erwiderte die Kusine und küsste ihr die Hand.
»Nein, küsse mich hierhin, die Hände küsst man nur Toten. O mein Gott! O mein Gott!«
Am Abend desselben Tages war die Kranke bereits ein Leichnam, und der Sarg mit ihrem Körper stand aufgebahrt im Saal des großen Hauses. In dem großen Raum, dessen Türen alle geschlossen waren, saß ein Mesner und las mit näselnder, monotoner Stimme die Psalmen Davids. Der grelle Schein der Wachskerzen fiel von den hohen silbernen Leuchtern auf die bleiche Stirn der Entschlafenen, auf ihre schweren, wächsernen Hände und auf die starren Falten der Decke, unter der sich unheimlich die Knie und Zehen abhoben. Der Mesner las den Text, ohne ihn zu verstehen, in gleichförmigem Tonfall, und es lag etwas Beklemmendes darin, wie seine Worte durch den stillen Saal schallten und ausklangen. Hin und wieder drangen aus einem entlegenen Zimmer die Stimmen und das Getrappel der Kinder herüber.
»Verbirgst Du Dein Angesicht, so erschrecken sie«, hieß es im Psalm. »Du nimmst weg ihren Odem, so vergehen sie und werden wieder zu Staub. Du lässest aus Deinen Odem, so werden sie geschaffen, und erneuest die Gestalt der Erde. Die Ehre des Herrn ist ewig.«
Das Gesicht der Entschlafenen hatte einen strengen, ruhigen und erhabenen Ausdruck. Nichts regte sich auf der reinen kalten Stirn und an den fest zusammengepressten Lippen. Sie war ganz Aufmerksamkeit. Ob sie wohl wenigstens jetzt diese erhabenen Worte verstand?
4
Nachdem ein Monat vergangen war, ragte über dem Grab der Verstorbenen eine massive Kapelle empor. Das Grab des Kutschers wies noch immer keinen Stein auf, und nur hellgrünes Gras spross auf dem kleinen Hügel, der das einzige Zeugnis eines vergangenen Menschenlebens darstellte.
»Du versündigst dich, Serjoga«, sagte auf der Station eines Tages die Köchin, »wenn du für Fjodor keinen Stein kaufst. Solange hast du dich immer mit dem Winter ausgeredet, aber warum hältst du auch jetzt nicht dein Wort? Du hast es in meinem Beisein gegeben. Er ist dir schon zweimal erschienen, dich zu mahnen; kaufst du nicht den Stein, wird er noch mal kommen, wird dich würgen.«
»Ja, weigere ich mich denn etwa?«, entgegnete Serjoga. »Ich werde den Stein schon kaufen, wie ich es versprochen habe, für anderthalb Rubel werde ich einen kaufen. Vergessen habe ich es nicht, aber er muss doch hergeschafft werden. Sobald sich eine Gelegenheit bietet, in die Stadt zu kommen, werde ich auch den Stein kaufen.«
»Du könntest doch wenigstens ein Kreuz aufstellen, meine ich«, mischte sich ein alter Kutscher ein. »Denn so ist es gewissenlos … Seine Stiefel trägst du doch.«
»Woher soll ich ein Kreuz nehmen? Aus einem Scheit Brennholz kann ich es doch nicht machen.«
»Was redest du da für Unsinn! Kannst du es nicht aus Brennholz, dann nimm eine Axt und geh in aller Frühe ins Wäldchen, da wirst du genug Holz haben. Fälle irgendeine junge Esche. Das reicht zu einem Kreuz, mit Dach sogar. Denn sonst musst du erst dem Aufseher einen Schnaps spendieren. Wo aber soll das hinführen, wenn man jedem für jede Kleinigkeit etwas spendieren wollte? Neulich ist mir eine Deichsel zerbrochen, da habe ich mir auch ein Bäumchen gefällt und eine schöne neue gezimmert. Niemand hat ein Wort gesagt.«
Am nächsten Tag nahm Serjoga beim ersten Dämmern des Morgens eine Axt und ging ins Wäldchen.
Alles ringsum war noch von der kalten, matt schimmernden Taudecke überzogen, die von der Sonne noch nicht berührt war. Im Osten lichtete sich allmählich der Horizont und warf einen schwachen Schein auf den mit leichten Wolken bezogenen Himmel.
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