Die schönsten Erzählungen (Die schönsten Erzählungen / Geschichten) (German Edition)
werden. »Sie wird es nicht überstehen. Denn so, wie sie sie liebt, wie sie sie liebt… das ist gar nicht zu sagen! Vielleicht würde es Ihnen, ehrwürdiger Vater, gelingen, sie zu beruhigen und sie wenigstens dazu zu bewegen, sich von hier zu entfernen.«
Der Priester stand auf und begab sich zu der Greisin.
»Ich weiß wohl, die Liebe eines Mutterherzens kann niemand ermessen«, sagte er, »aber Gott ist barmherzig.«
Das Gesicht der Greisin begann plötzlich zu zucken, und sie brach in ein hysterisches Schluchzen aus.
»Gott ist barmherzig«, wiederholte der Priester, als sie sich ein wenig beruhigt hatte. »Ich kann Ihnen berichten, dass ich in meiner Gemeinde einen Mann hatte, der noch viel schwerer erkrankt war als Marja Dmitrijewna und den dennoch ein einfacher Bürgersmann in kurzer Zeit durch Kräuter auskuriert hat. Und dieser Bürgersmann hält sich sogar jetzt noch in Moskau auf. Ich sprach schon mit Wassili Dmitrijewitsch darüber – man könnte es doch versuchen. Zumindest wäre es eine Beruhigung für die Kranke. Gott ist nichts unmöglich.«
»Nein, sie ist nicht mehr zu retten«, stammelte die Greisin. »Wenn Gott doch mich statt ihrer zu sich nähme.« Und wieder brach sie in ein so hysterisches Schluchzen aus, dass sie die Besinnung verlor.
Der Mann der Kranken schlug die Hände vors Gesicht und lief aus dem Zimmer.
Der Erste, der ihm im Flur begegnete, war sein sechsjähriger Sohn, der atemlos hinter seiner jüngeren Schwester herjagte.
»Sollte man nicht auch die Kinder zur Mutter führen?«, fragte die Kinderfrau.
»Nein, sie will sie nicht sehen. Es würde sie aufregen.«
Der Knabe blieb stehen, sah den Vater einen Augenblick aufmerksam an, machte dann einen Sprung und lief unter fröhlichen Rufen weiter.
»Wir spielen Pferdchen, Papa, sie ist der Rappe!«, rief er dem Vater zu und zeigte auf seine kleine Schwester.
Mittlerweile saß die Kusine im anderen Zimmer bei der Kranken und bemühte sich, sie durch geschickte Lenkung des Gesprächs mit dem Gedanken an den Tod vertraut zu machen. Der Arzt stand am Fenster und bereitete eine Mixtur zu.
Die Kranke saß, von allen Seiten in Kissen gebettet, in einem weißen Morgenkleid im Bett und blickte schweigend auf die Kusine.
»Ach, meine Liebe«, unterbrach sie sie plötzlich, »Sie brauchen mich auf den Tod nicht erst vorzubereiten. Halten Sie mich nicht für ein Kind. Ich bin eine Christin. Mir ist alles klar. Ich weiß, dass ich nicht mehr lange zu leben habe, weiß auch, dass ich, wenn mein Mann rechtzeitig auf mich gehört hätte, jetzt in Italien sein könnte und vielleicht, ja sogar bestimmt, schon wieder gesund wäre. Das haben ihm alle gesagt. Doch was hilft es, Gott hat es so gewollt. Auf uns allen lasten viele Sünden, das weiß ich. Aber ich vertraue auf die Gnade Gottes; er vergibt allen, er wird uns gewiss allen vergeben. Ich bin bemüht, mich zu sammeln. Auch ich habe oft gesündigt, meine Liebe. Doch wie viel habe ich dafür auch gelitten. Ich habe versucht, meine Prüfungen mit Geduld zu tragen …«
»Soll ich Ihnen vielleicht den Priester schicken, Liebste?«, fragte die Kusine. »Es wird Ihnen noch leichter sein, wenn Sie das Abendmahl empfangen.«
Die Kranke neigte den Kopf zum Zeichen ihres Einverständnisses.
»Barmherziger Gott! Vergib mir Sünderin!«, flüsterte sie. Die Kusine ging hinaus und machte dem Priester ein Zeichen mit den Augen.
»Sie ist ein Engel!«, sagte sie mit Tränen in den Augen zu dem Mann der Kranken.
Der Mann brach in Tränen aus, der Priester begab sich zur Kranken, die Greisin war immer noch ohnmächtig, und im Nebenzimmer trat völlige Stille ein. Nach fünf Minuten kam der Priester zurück, legte das Epitrachilion ab und ordnete sein Haar.
»Gott sei Dank, sie ist jetzt ruhiger«, teilte er mit. »Sie möchten zu ihr kommen.«
Die Kusine und der Mann gingen ins Krankenzimmer. Die Kranke hatte die Augen auf das Heiligenbild gerichtet und weinte leise.
»Gott steh dir bei, mein Liebling!«, sagte der Mann.
»Ich danke dir. Mir ist jetzt so wohl zumute, eine unfassbare Wonne hat mich ergriffen«, erwiderte die Kranke, während ein leichtes Lächeln ihre schmalen Lippen umspielte. »Wie groß ist die Barmherzigkeit Gottes! Nicht wahr, er ist barmherzig und allmächtig?«, fügte sie hinzu und richtete die tränengefüllten Augen erneut mit inbrünstig-flehendem Ausdruck auf das Heiligenbild.
Da schien sie sich plötzlich auf etwas zu besinnen. Sie winkte ihren Mann zu sich
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