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Die schönsten Erzählungen (Die schönsten Erzählungen / Geschichten) (German Edition)

Die schönsten Erzählungen (Die schönsten Erzählungen / Geschichten) (German Edition)

Titel: Die schönsten Erzählungen (Die schönsten Erzählungen / Geschichten) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lew Tolstoi
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seinen Bauernrock über die Füße.
    Während der Nacht war die Stube spärlich von einem Nachtlämpchen erleuchtet. Nastassja und wohl zehn Kutscher schliefen laut schnarchend auf dem Fußboden und den Bänken. Nur der Kranke ächzte schwach, hustete und drehte sich auf dem Ofen von einer Seite auf die andere. Gegen Morgen wurde er ganz still.
    »Komisch, was ich diese Nacht geträumt habe«, sagte die Köchin am nächsten Morgen, im Halbdunkel die Glieder reckend. »Onkel Fjodor, träumte ich, war vom Ofen gestiegen und ging in den Hof, um Holz zu hacken. ›Ich will dir helfen, Nastassja‹, sagt er. ›Wo denkst du hin‹, sage ich darauf, ›du kannst doch nicht mehr Holz hacken.‹ Aber er nimmt die Axt und schlägt mit einer solchen Wucht auf das Holz los, dass die Späne nur so fliegen. ›Nanu‹, sage ich, ›du warst doch krank?‹ – ›Nein‹, antwortet er, ›ich bin gesund‹, und dabei holt er so mit der Axt aus, dass mir angst und bange wurde. Da schrie ich auf und erwachte… Ob er gar gestorben ist? Onkel Fjodor! He, Onkel!«
    Fjodor gab keinen Ton von sich.
    »Womöglich ist er wirklich gestorben; man muss mal nachsehen«, meinte einer der wach gewordenen Kutscher.
    Die vom Ofen herunterhängende hagere, mit rötlichen Haaren bedeckte Hand war kalt und weiß.
    »Man muss es dem Stationsvorsteher melden, er scheint wirklich tot zu sein«, sagte der Kutscher.
    Angehörige hatte Fjodor nicht – er war von auswärts. Tags darauf wurde er auf dem neuen Friedhof hinter dem Wäldchen beigesetzt, und Nastassja erzählte mehrere Tage allen von ihrem Traum und wie sie als Erste darauf gekommen war, nach Onkel Fjodor zu sehen.
    3
     
    Es war Frühling geworden. Über die nassen Straßen der Stadt, zwischen den gefrorenen Schmutzklumpen, plätscherten hurtige Bächlein; man trug hellere Kleider, und die Stimmen der Menschen, die die Straßen bevölkerten, waren lebhafter geworden. In den Gärten hinter den Zäunen schwollen die Knospen an den Bäumen, deren Zweige leise von einem frischen Lüftchen bewegt wurden. Von überall rannen und tröpfelten durchsichtige Wassertropfen . . . Die Spatzen schilpten durcheinander und flatterten mit ihren kleinen Flügeln hin und her. Wo die Sonne hinkam – auf den Zäunen, auf den Dächern und den Bäumen –, glänzte und bewegte sich alles. Am Himmel, auf der Erde, in den Herzen der Menschen – überall war alles froh und jugendfrisch.
    In einer der Hauptstraßen war vor einem großen, herrschaftlichen Hause frisches Stroh ausgebreitet; in diesem Hause lag jene Kranke im Sterben, die es so eilig gehabt hatte, ins Ausland zu kommen.
    Vor der geschlossenen Tür des Krankenzimmers standen der Mann der Kranken und eine ältere Dame. Auf dem Sofa saß ein Priester mit gesenkten Augen und hielt einen in das Epitrachilion eingehüllten Gegenstand in der Hand. In der Ecke, in einen Voltairesessel versunken, saß eine Greisin – die Mutter der Kranken – und weinte bitterlich. Neben ihr stand das Stubenmädchen und hielt ein frisches Taschentuch bereit, um es der alten Dame auf Verlangen zu reichen; ein zweites Mädchen rieb der Greisin die Schläfen mit irgendeiner Flüssigkeit ein und blies ihr unter das Häubchen auf den greisen Kopf.
    »Nun, Gott stehe Ihnen bei, meine Liebe«, sagte der Mann der Kranken zu der älteren Dame, die mit ihm vor der Tür stand. »Sie hat ja so großes Vertrauen zu Ihnen, und Sie verstehen so gut mit ihr umzugehen, reden Sie ihr gut zu, meine Beste, gehen Sie zu ihr!« Er wollte schon die Tür öffnen, aber die Kusine hielt ihn zurück; sie drückte mehrmals ihr Taschentuch an die Augen und schüttelte den Kopf.
    »So, jetzt sieht man wohl nicht mehr, dass ich geweint habe«, sagte sie, öffnete nun selbst die Tür und ging ins Krankenzimmer.
    Der Mann war äußerst aufgeregt und schien völlig die Fassung verloren zu haben. Er wollte sich zu der Greisin begeben, kehrte aber, als er sich ihr bis auf wenige Schritte genähert hatte, wieder um und ging auf den Priester zu, der am anderen Ende des Zimmers saß. Der Priester sah ihn an, blickte mit hochgezogenen Brauen zum Himmel empor und seufzte. Sein dichter graumelierter Bart hob und senkte sich dabei.
    »O mein Gott! O mein Gott!«, stöhnte der Mann.
    »Es ist nicht zu ändern«, sagte der Priester mit einem
    Seufzer, und wiederum hoben und senkten sich seine Brauen und der Bart.
    »Und ihre arme Mutter ist auch hier!«, sagte der Mann, nahe daran, von Verzweiflung überwältigt zu

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