Die schönsten Erzählungen (Die schönsten Erzählungen / Geschichten) (German Edition)
Diese Rechtfertigung seines Lebens umklammerte ihn, hielt ihn zurück und bereitete ihm damit die allerschlimmsten Qualen.
Plötzlich war ihm, als stoße ihn jemand gegen die Brust und in die Seite, seine Atembeklemmungen verstärkten sich, er versank in den Schlund und sah dort auf dem Grunde des Schlundes etwas aufleuchten. Es erging ihm ähnlich, wie es einem zuweilen bei einer Bahnfahrt ergeht, wenn man vorwärts zu fahren glaubt, in Wirklichkeit jedoch rückwärts fährt und auf einmal die tatsächliche Richtung erkennt.
Ja, es ist alles verkehrt gewesen, dachte er. Aber das ist nicht so schlimm, man kann, bestimmt kann man das Richtige noch nachholen. Aber was ist »das Richtige«?, fragte er sich und wurde plötzlich still.
Das geschah am Ende des dritten Tages, eine Stunde vor seinem Tode. Zur selben Zeit war sein Sohn, der Gymnasiast, leise ins Zimmer gekommen und an das Bett herangetreten. Der Sterbende schrie immer noch verzweifelt, schlug um sich und traf mit der einen Hand den Kopf des Gymnasiasten. Der Gymnasiast ergriff die Hand, presste sie an die Lippen und brach in Tränen aus.
Das war der Augenblick, als Iwan Iljitsch in den Schlund gefallen war, auf dessen Grund er das Licht erblickt hatte und ihm die Erleuchtung gekommen war, dass er verkehrt gelebt habe, was sich jedoch, wie er glaubte, noch wiedergutmachen lasse; und als er sich hierauf fragte, was denn »das Richtige« sei, und in Erwartung einer Antwort den Atem anhielt, spürte er plötzlich, dass ihm jemand die Hand küsste. Er öffnete die Augen und nahm seinen Sohn wahr. Der Junge tat ihm leid. Seine Frau kam hinzu. Er wandte sich zu ihr um. Den Mund halb geöffnet und die Wangen nass von Tränen, sah sie ihn voller Verzweiflung an. Auch sie tat ihm leid.
Ja, ich quäle alle, dachte er. Sie haben Mitleid mit mir, aber sie werden es besser haben, wenn ich erst gestorben bin … Er wollte ihnen das sagen, fand jedoch nicht mehr die Kraft dazu. Nun, wozu soll ich noch viel Worte machen, ich muss eben wirklich sterben, dachte er. Er deutete mit dem Kopf auf den Sohn und sagte, mühsam die Worte hervorbringend, zu seiner Frau:
»Führ ihn … hinaus, er tut … mir leid … und du auch …« Er wollte noch hinzufügen: Verzeiht mir, versprach sich jedoch und sagte irgendein ähnlich klingendes, anderes Wort, und zu entkräftet, um sich noch korrigieren zu können, machte er nur eine resignierte Handbewegung: Der, dem es gilt, dachte er, wird es schon richtig verstehen.
Und plötzlich nahm er wahr, dass sich für all die unentwirrbaren Fragen, die ihn so lange gequält hatten, unversehens und zugleich von zwei, von zehn, von allen Seiten die Lösung zeigte.
Ja, sie sind zu bedauern, sagte er sich in Gedanken an seine Angehörigen. Ich muss dafür sorgen, dass sie nicht mehr zu leiden haben, muss sie und mich selbst von allen diesen Qualen befreien. Wie schön wird das sein und wie einfach … Und meine Schmerzen?, fragte er sich. Was wird aus ihnen werden? Sind sie überhaupt noch da?
Er betastete seinen Leib.
Ja, da stecken sie noch. Nun, mögen sie bleiben … Und der Tod? Wie ist es mit dem?
Er entsann sich seiner bisherigen ständigen Angst vor dem Tode und empfand jetzt nichts mehr davon. Was bedeutet der Tod? Das Gespenst des Todes war verschwunden, weil es keinen Tod mehr für ihn gab.
An die Stelle des Todes war Licht getreten.
»Also so ist es!«, sagte er plötzlich laut vor sich hin. »Welche Freude!«
Für ihn vollzog sich das alles in einem einzigen Augenblick, und die Bedeutung dieses Augenblicks änderte sich nicht mehr. Für die Anwesenden hingegen dauerte seine Agonie noch zwei Stunden. In seiner Brust hörte man ein Röcheln und schnarrende Laute, und hin und wieder zuckte sein abgezehrter Körper. Dann ließ das Röcheln und Schnarren allmählich nach.
»Es ist zu Ende!«, sagte jemand, der sich über ihn gebeugt hatte.
Er hörte diese Worte und wiederholte sie in seiner Seele. Der Tod ist vorüber, sagte er sich, es gibt ihn nicht mehr.
Er schöpfte tief Atem, hielt mitten dabei inne, streckte sich aus und verschied.
1886
HERR UND KNECHT
1
Es war in einem Winter in den siebziger Jahren, einen Tag nach St. Nikolaus. Im Kirchsprengel wurde der Feiertag festlich begangen, so dass Wassili Andrejitsch Brechunow, Herbergswirt und Kaufmann zweiter Gilde, unabkömmlich war: Er musste in der Kirche anwesend sein – er versah das Amt des Kirchenvorstehers –, und zu Hause mussten Verwandte und
Weitere Kostenlose Bücher