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Die schönsten Erzählungen (Die schönsten Erzählungen / Geschichten) (German Edition)

Die schönsten Erzählungen (Die schönsten Erzählungen / Geschichten) (German Edition)

Titel: Die schönsten Erzählungen (Die schönsten Erzählungen / Geschichten) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lew Tolstoi
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wurde klar, das alles war verkehrt und eine schreckliche, ungeheure Täuschung gewesen, die ihm den Blick für die Frage von Leben und Tod getrübt hatte. Diese Erkenntnis steigerte, verzehnfachte seine körperlichen Qualen. Er stöhnte, warf sich hin und her und zerrte an seiner Kleidung. Ihm schien es, als enge sie ihn ein und erschwere ihm das Atmen, und in seinem Ärger darüber wurde ihm seine ganze Umgebung verhasst.
    Man verabreichte ihm eine große Dosis Morphium, nach der er in Halbschlummer versank. Doch schon um die Mittagszeit kam er wieder zu sich, trieb alle von sich fort und warf sich abermals von einer Seite auf die andere.
    Seine Frau trat an ihn heran und sagte: »Jean, Liebster, tue es um meinetwillen.« – Um ihretwillen? – »Schaden kann es nie, aber es hat schon vielen Erleichterung verschafft. Es ist ja nichts Außergewöhnliches. Auch Gesunde haben oft …«
    Er riss die Augen weit auf.
    »Was soll ich? Das Abendmahl nehmen? Warum das? Es ist nicht nötig! Übrigens, vielleicht. ..«
    Seiner Frau rannen Tränen über die Wangen.
    »Ja, bist du bereit, Liebster? Ich werde den Priester unserer Kirche herbitten lassen, er ist ein so lieber Mensch.«
    »Nun gut, ausgezeichnet.« Er willigte ein.
    Als der Priester erschien und ihm die Beichte abnahm, wurde er weicher gestimmt; seine Zweifel bedrückten ihn weniger, und als Folge davon glaubte er auch ein Nachlassen seiner Schmerzen zu verspüren und fasste wieder Mut. Er dachte wieder an den Blinddarm und an die Möglichkeit, ihn in Ordnung zu bringen. Beim Ablegen der Beichte hatte er Tränen in den Augen.
    Nachdem man ihn im Anschluss an das Abendmahl wieder gebettet hatte, fühlte er sich in den ersten Augenblicken erleichtert und schöpfte erneut Hoffnung auf Genesung. Er überlegte, ob er in die ihm vorgeschlagene Operation einwilligen solle. »Ich will leben, will am Leben bleiben!«, murmelte er vor sich hin. Seine Frau kam, um ihn zum Empfang des Abendmahls zu beglückwünschen; sie sagte die üblichen Worte und fragte: »Nicht wahr, du fühlst dich jetzt doch besser?«
    »Ja«, antwortete er, ohne sie anzusehen.
    Ihre Kleidung, ihre Figur, der Ausdruck ihres Gesichts, der Klang ihrer Stimme – alles sagte ihm dasselbe: Du hast verkehrt gelebt! Alles das, was bis jetzt dein Leben ausgefüllt hat, ist Lug und Trug gewesen und hat dir den wahren Sinn von Leben und Tod verdeckt. Der Gedanke entfachte aufs Neue seinen Hass; zugleich damit begannen auch wieder seine unerträglichen Schmerzen, und diese wiederum brachten ihm den unabwendbaren nahen Untergang zum Bewusstsein. In seinem Zustand war etwas Neues hinzugekommen: Es war ihm, als bohre und stoße etwas in seinem Körper und als drücke ihm jemand die Kehle zu.
    Der Ausdruck seines Gesichts, als er zu seiner Frau »ja« sagte, war erschreckend. Nachdem er dieses »Ja« ausgesprochen und ihr gerade ins Gesicht geblickt hatte, drehte er sich trotz seiner Schwäche ungewöhnlich schnell um, vergrub das Gesicht in die Kissen und schrie:
    »Geht hinaus, geht hinaus! Lasst mich allein!«
    12
     
    Von dieser Minute an begann sein drei Tage lang ununterbrochen andauerndes Schreien, das noch im übernächsten Zimmer zu hören war und so fürchterlich klang, dass es jeden erschauern ließ. In jenem Augenblick, als er seiner Frau geantwortet hatte, war ihm klargeworden, dass er verloren war, dass es keine Rückkehr gab, dass ihm das Ende, das endgültige Ende unmittelbar bevorstand, dass seine Zweifel ungelöst waren und er sie ungelöst mit ins Grab nehmen werde.
    »Uh! U-u-u! Uh!«, schrie er in verschiedenen Intonationen. Zuallererst hatte er geschrien: »Weg du!«, und so klangen seine Schreie auch weiter auf den U-Laut aus.
    Während dieser ganzen drei Tage, in denen ihm jeder Zeitbegriff fehlte, hatte er wieder das Gefühl, von einer unsichtbaren, unüberwindlichen Kraft in einen schwarzen Sack hineingezwängt zu werden. Er schlug um sich, wie es ein zum Tode Verurteilter in den Armen des Henkers tut, wusste aber zugleich, dass es keine Rettung für ihn gab; mit jeder Minute erkannte er deutlicher, dass er sich, ungeachtet seines krampfhaften Widerstands, immer mehr dem Augenblick näherte, vor dem ihm so graute. Er fühlte, dass seine Qualen davon herrührten, dass er in diesen dunklen Schlund gesteckt werden sollte, und dass sie noch verstärkt wurden, weil man ihn nicht ganz hineinzwängen konnte. Verhindert wurde es nämlich durch seine Überzeugung, sein Leben sei untadelhaft gewesen.

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