Die schönsten Erzählungen (Die schönsten Erzählungen / Geschichten) (German Edition)
die Qualen und der Tod sind mir gewiss. Aber wofür?«
11
Unter solchen Umständen verstrichen weitere zwei Wochen. Im Verlauf dieser Wochen ereignete sich das, was Iwan Iljitsch und seine Frau schon lange gewünscht hatten: Petristschew hielt in aller Form um die Hand ihrer Tochter an. Das geschah an einem Abend. Als Praskowja Fjodorowna am nächsten Morgen zu ihrem Mann kam, dessen Zustand sich in der vorausgegangenen Nacht gerade wieder verschlechtert hatte, überlegte sie, wie sie ihn von dem Antrag Fjodor Petrowitschs in Kenntnis setzen sollte. Bei ihrem Eintritt lag Iwan Iljitsch wie gewöhnlich auf der Chaiselongue, doch in anderer Stellung als sonst. Er lag auf dem Rücken, stöhnte und starrte regungslos vor sich hin.
Praskowja Fjodorowna begann von den Medikamenten zu sprechen. Er wandte den Kopf zu ihr um – und sie brach den angefangenen Satz ab: Eine solche unverkennbar gerade ihr geltende Wut sprach aus dem Blick, mit dem er sie ansah.
»Um Christi willen, lass mich in Ruhe sterben«, sagte er.
Sie war schon im Begriff, sich zurückzuziehen, als nun auch die Tochter erschien und an den Vater herantrat, um ihn zu begrüßen. Er maß die Tochter mit einem ebenso wütenden Blick wie vorhin seine Frau, und auf ihre Fragen nach seinem Befinden antwortete er schroff, er werde sie alle bald von seiner Gegenwart befreien. Mutter und Tochter sagten nichts mehr, blieben noch eine Weile sitzen und entfernten sich dann.
»Was haben wir denn verbrochen? Papa tut ja so, als seien wir an seiner Krankheit schuld. Er tut mir leid, aber es ist doch keine Art, seine schlechte Stimmung an uns auszulassen!«
Zur üblichen Zeit fand sich der Arzt ein. Iwan Iljitsch beantwortete seine Fragen mit einem kurzen »Ja« oder »Nein«, sah ihn unverwandt wütend an und sagte schließlich: »Sie wissen ja, dass es nichts gibt, womit Sie mir helfen können – lassen Sie mich doch in Ruhe.«
»Ich kann Ihnen Erleichterung für Ihre Schmerzen verschaffen«, erwiderte der Arzt.
»Auch das können Sie nicht; lassen Sie mich.«
Der Arzt ging und begab sich in den Salon, wo er Praskowja Fjodorowna erklärte, dass es um ihren Mann sehr schlecht stehe und dass es nur noch ein Mittel gebe, das Opium, ihm seine Qualen zu lindern, die furchtbar sein müssten.
Der Arzt sprach von Iwan Iljitschs körperlichen Qualen und hatte recht, wenn er sie als furchtbar bezeichnete; doch noch fürchterlicher als die körperlichen waren seine seelischen Qualen, unter denen er jetzt am allermeisten litt.
Seine seelischen Qualen rührten daher, dass ihm in der letzten Nacht, während er auf das gutmütige, hartknochige Gesicht des schlaftrunkenen Gerassim geblickt hatte, plötzlich der Gedanke durch den Kopf geschossen war, dass sein Leben, sein ganzes bewusstes Leben, vielleicht doch nicht so untadelhaft gewesen sein könnte, wie er immer geglaubt hatte.
Ihm war der Gedanke gekommen, die von ihm so lange für völlig unmöglich gehaltene Annahme, er habe sein ganzes Leben lang nicht so gelebt, wie es nötig gewesen wäre, könnte am Ende vielleicht doch zutreffen. Ihm war der Gedanke gekommen, dass jene leisen Anwandlungen, gegen das anzukämpfen, was von höchststehenden Persönlichkeiten als richtig erachtet wurde – dass jene Anwandlungen, die ihn nur hin und wieder befallen hatten und von ihm sofort unterdrückt worden waren, vielleicht doch berechtigt gewesen waren und alles andere falsch war. Seine dienstliche Tätigkeit und seine ganze Lebensführung, die Familie, die vielen gesellschaftlichen und dienstlichen Interessen – sollte das alles verkehrt gewesen sein? Er versuchte, alles das vor sich selbst zu rechtfertigen. Doch dann wurde er sich plötzlich der ganzen Nichtigkeit dessen bewusst, was er zu rechtfertigen versuchte. Es gab dafür keine Rechtfertigung.
Wenn dem so ist, dachte er hierauf, und ich mit der Erkenntnis aus dem Leben scheiden muss, dass ich alles vergeudet habe, was mir gegeben war, und dass es sich nicht wiedergutmachen lässt – was ergibt sich dann daraus? Er legte sich auf den Rücken und begann sein ganzes Leben von einem neuen Gesichtspunkt aus zu überdenken. Als er morgens den Diener kommen sah, als dann nacheinander seine Frau, die Tochter und der Arzt erschienen, fand er in jeder ihrer Bewegungen, in jedem ihrer Worte die furchtbare Wahrheit dessen bestätigt, was sich ihm in der Nacht offenbart hatte. In ihnen sah er sich selbst, sah er alles, was den Inhalt seines Lebens ausgemacht hatte, und ihm
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