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Die Schopenhauer-Kur

Die Schopenhauer-Kur

Titel: Die Schopenhauer-Kur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Irvin D. Yalom
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selbst und gelegentlich Rebecca –, sie geht immer sanft mit mir um. Stuart, also, der ist einer von den Richtern; er hat entschieden etwas
Selbstgerechtes. Ein ziemlicher Tugendbolzen manchmal. Und Rebecca, klar – von der höre ich eine Menge Anweisungen: Seien Sie wie ich, seien Sie selbstsicher, seien Sie gründlich, kleiden Sie sich richtig, waschen Sie sich, seien Sie ordentlich. Deshalb war ich erleichtert, als Rebecca und Stuart eine solche Verletzlichkeit zeigten: Dadurch war es mir möglich, mich zu öffnen. Und Pam – sie ist die Richterin schlechthin. Oberster Gerichtshof. Kein Zweifel. Ich weiß, dass sie mich für schwach hält, für unfair gegenüber Rose, was auch immer, alles an mir ist verkehrt. Ich habe nicht viel Hoffnung, ihr zu gefallen – eigentlich habe ich gar keine Hoffnung.« Er hielt inne. »Das war’s dann wohl«, sagte er und musterte die Gruppe. »Ach so, Philip.« Im Gegensatz zu den anderen Mitgliedern sprach er Philip direkt an. »Mal sehen . . . ich glaube nicht, dass Sie mich verurteilen, aber das ist nicht unbedingt ein Kompliment. Eher das Gefühl, Sie würden sich gar nicht die Mühe machen, mir so nahe zu kommen oder sich mit mir zu beschäftigen, um mich überhaupt zu beurteilen.«
    Julius war sehr zufrieden. Er hatte das nicht-konstruktive Stöhnen über Verrat oder Betrug und die Strenge des Verhörs von Gill entschärft. Es war eine Sache des Timings; früher oder später würden die Details seines Alkoholismus zur Sprache kommen, aber nicht jetzt und nicht auf diese Weise.
    Überdies hatte Julius’ Beharren auf einer horizontalen Offenbarung einen Bonus abgeworfen – Gills zehnminütiger kühner Rundumschlag war eine Goldgrube an Informationen gewesen; genug, um Zündstoff für einige produktive Sitzungen zu liefern.
    An die Gruppe gewandt, fragte Julius: »Irgendwelche Reaktionen?«
    Alle zögerten – nicht, weil es so wenig zu sagen gab, vermutete er, sondern so viel. Die Tagesordnung ächzte unter ihrem eigenen Gewicht: Die Mitglieder mussten einfach Reaktionen haben auf Gills Geständnis, auf seinen Alkoholismus und seine
plötzliche Härte in den letzten Minuten. Er wartete gespannt. Etwas Gutes war im Entstehen.
    Er bemerkte, dass Philip ihn anschaute, und einen Moment lang trafen sich ihre Blicke – das war ungewöhnlich. Vielleicht, dachte Julius, signalisierte Philip seine Anerkennung des Geschicks, mit dem er dieses Treffen leitete. Vielleicht sann Philip aber auch über Gills Rückmeldung an ihn nach. Julius beschloss nachzuhaken und nickte Philip zu. Keine Reaktion. Also sagte er: »Ihre Gefühle bislang, Philip, was diese Sitzung angeht?«
    »Ich habe mich gefragt, ob Sie wohl daran teilnehmen.«
    »Teilnehmen?« Julius war erstaunt. »Und ich habe mich gefragt, ob ich heute zu aktiv war, zu sehr eingegriffen habe.«
    »Ich meinte teilnehmen am Enthüllen von Geheimnissen«, sagte Philip.
    Ob Philip wohl jemals, dachte Julius, etwas auch nur einigermaßen Vorhersehbares sagen wird? »Philip, ich weiche Ihrer Frage nicht aus, aber es gibt hier ein paar drängende offene Probleme.« Er wandte sich Gill zu. »Mich interessiert, wie es Ihnen jetzt geht.«
    »Ich bin völlig fertig. Meine einzige Sorge ist die, ob Sie mich als Alkoholiker in der Gruppe behalten«, sagte Gill, dessen Stirn vor Schweiß glänzte.
    »Klingt, als würden Sie uns im Moment besonders brauchen. Ich frage mich allerdings, ob Ihre heutige Offenbarung darauf hinweist, dass Sie sich entschließen wollen, etwas zu unternehmen. In ein Entzugsprogramm einsteigen vielleicht?«
    »Ja. Nach diesem Treffen kann ich nicht weitermachen wie bisher. Womöglich rufe ich Sie demnächst wegen einer Einzelsitzung an. Okay?«
    »Natürlich – so viele, wie Sie wollen.« Es war Julius’ Politik, Bitten um Einzelsitzungen unter der Bedingung nachzukommen, dass der Patient die Einzelheiten dieser Sitzung beim nächsten Gruppentreffen mitteilte.
    Julius wandte sich wieder an Philip. »Zurück zu Ihrer Frage.
Es gibt einen alten Therapeutentrick, der eine elegante Ausflucht vor peinlichen Fragen erlaubt, und zwar die Antwort: ›Warum stellen Sie mir diese Frage?‹ Nun, das werde ich Sie auch fragen, aber nicht, um Ihnen auszuweichen. Stattdessen mache ich Ihnen einen Vorschlag: Ich verspreche, Ihre Frage vollständig zu beantworten, wenn Sie einwilligen, zunächst Ihre Motive dafür zu ergründen. Abgemacht?«
    Philip zögerte, dann entgegnete er: »Na schön. Mein Motiv für die Frage ist

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