Die Schopenhauer-Kur
vergessen.«
Gill hielt inne. Die Aufmerksamkeit aller blieb auf ihn gerichtet, aber er atmete mit einem lauten »Pfffff« aus. Er sah aus, als ob er genug hätte, und lehnte sich in seinen Sessel zurück, offensichtlich ermattet, holte ein Taschentuch hervor und wischte sich Gesicht und Kopf ab.
Äußerungen wie »gut gemacht«, »ganz schön riskant«, wurden von Rebecca, Stuart, Tony und Bonnie laut. Pam und Philip schwiegen.
»Wie war es, Gill? Sind Sie zufrieden?«, fragte Julius.
Gill nickte. »Ich habe mich ein bisschen vorgewagt. Hoffentlich ist keiner beleidigt.«
»Was ist mit Ihnen, Pam? Sind Sie zufrieden?«
»Ich habe heute ja schon als Gruppenzicke hergehalten.«
»Gill, ich möchte Sie um etwas bitten«, sagte Julius. »Stellen Sie sich eine Skala der Selbstoffenbarung vor. An ihrem einen Ende steht die Eins, die ungefährlichste Enthüllung, Zeug für eine Cocktailparty, und am anderen Ende die Zehn; das wäre die gründlichste und riskanteste Offenbarung, die man sich denken kann. Alles klar?«
Gill nickte.
»Schauen Sie jetzt auf Ihren Rundumschlag von gerade eben zurück und sagen Sie uns, Gill, welche Punktzahl Sie sich geben würden.«
Weiterhin nickend, antwortete Gill rasch: »Ich würde mir eine Vier geben, vielleicht eine Fünf.«
Julius, der eine Intellektualisierung oder andere Abwehrhaltung aus Gills Arsenal von Schutzmechanismen verhindern wollte, reagierte sofort: »Und jetzt sagen Sie mir, Gill, was passieren würde, wenn Sie einen Zahn zulegen würden.«
»Wenn ich einen Zahn zulegen würde«, erwiderte Gill, ohne zu zögern, »würde ich der Gruppe erzählen, dass ich Alkoholiker bin und mich jeden Abend bis zur Bewusstlosigkeit betrinke.«
Die Gruppe war fassungslos, Julius nicht weniger als die anderen. Ehe er Gill in die Gruppe gebracht hatte, hatte er ihn zwei Jahre lang in Einzeltherapie behandelt, und nie, nicht ein einziges Mal, hatte Gill ein Alkoholproblem erwähnt. Wie konnte das angehen? Julius war ein von Natur aus vertrauensvoller Mensch. Er gehörte zu den Optimisten, die ein Doppelspiel ihrer Patienten zutiefst verstörte; er fühlte sich aus dem Gleichgewicht gebracht und brauchte Zeit, um zu einer neuen Sicht auf Gill zu finden. Während er schweigend über seine eigene Naivität und die Flüchtigkeit der Realität nachsann, verdüsterte sich die Stimmung der Gruppe und wurde nach der ersten Ungläubigkeit immer gereizter.
»Was, machen Sie Witze?«
»Ich fasse es nicht. Wie konnten Sie jede Woche hierher kommen und damit hinterm Berg halten?«
»Sie haben nie was mit mir getrunken, nicht mal ein Bier. Was sollte das denn?«
»Verdammt noch mal! Wenn ich an all die fruchtlosen Überlegungen denke, zu denen Sie uns angestiftet haben, an all die verschwendete Zeit.«
»Was für ein Spielchen haben Sie da gespielt? – alles Lüge – ich meine, Ihre Probleme mit Rose – ihre Zickigkeit, dass sie Ihnen den Sex verweigert, dass sie kein Kind will, und kein Wort über das, was eigentlich Sache ist – dass Sie trinken.«
Sobald sich Julius wieder gefasst hatte, war ihm klar, was er tun musste. Ein Grundsatz, den er seine Gruppentherapiestudenten lehrte, lautete: Kein Mitglied darf jemals für eine Selbstoffenbarung bestraft werden. Im Gegenteil, das Eingehen von Risiken muss stets unterstützt und bestätigt werden.
Mit diesem Gedanken im Hinterkopf sagte er: »Ich verstehe
Ihre Bestürzung darüber, dass Gill uns nie etwas erzählt hat. Aber vergessen wir eine wichtige Tatsache nicht: Heute hat Gill sich geöffnet, hat uns vertraut.« Während er sprach, warf er Philip einen kurzen Blick zu in der Hoffnung, dass er aus dieser Transaktion etwas über Therapie lernen würde. Dann zu Gill: »Ich wüsste gern, was es Ihnen ermöglicht hat, heute ein derartiges Wagnis einzugehen.«
Gill, der sich zu sehr schämte, um die anderen anzusehen, konzentrierte sich auf Julius und entgegnete in nachdenklichem Ton: »Ich nehme an, es waren die riskanten Enthüllungen bei den letzten Treffen – angefangen mit Pam und Philip und dann Rebecca und Stuart –, ich bin mir ziemlich sicher, dass ich deshalb sagen konnte –«
»Wie lange schon?«, unterbrach ihn Rebecca. »Seit wann sind Sie Alkoholiker?«
»Das passiert schleichend, wissen Sie, also weiß ich es nicht genau. Ich habe immer gern einen getrunken, aber sämtliche Kriterien erfülle ich wohl seit etwa fünf Jahren.«
»Was für eine Art Alkoholiker sind Sie?«, fragte Tony.
»Meine
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