Die Schopenhauer-Kur
Lieblingsgifte sind Scotch, Cabernet und Black Russians. Aber ich lehne nichts ab – Wodka, Gin –, da bin ich nicht wählerisch.«
»Was ich meinte, war ›wann‹ und ›wie viel‹«, sagte Tony.
Gill zeigte keine Abwehr und schien bereit, jede Frage zu beantworten. »Meistens nach Feierabend. Ich fange mit Scotch an, sobald ich zu Hause bin (oder vorher, falls Rose an mir rumnörgelt), und dann arbeite ich mich für den Rest des Abends an gutem Wein ab – mindestens eine Flasche, manchmal zwei, bis ich vor dem Fernseher umkippe.«
»Was spielt Rose dabei für eine Rolle?«, fragte Pam.
»Also, früher waren wir beide die großen Weinfans, legten uns einen Zweitausend-Flaschen-Keller an, gingen zu Auktionen. Aber mittlerweile ermutigt sie mich nicht mehr zum Trinken – sie trinkt jetzt kaum ein Glas Wein zum Abendessen und will nichts mit Aktivitäten zu tun haben, bei denen es um Wein
geht, bis auf einige ihrer großen gesellschaftlichen Weinproben-Ereignisse.«
Julius versuchte erneut, gegen den Strom anzuschwimmen und die Gruppe ins Hier und Jetzt zurückzubringen. »Ich versuche gerade, mir vorzustellen, wie Sie sich dabei gefühlt haben müssen, zu jedem Treffen herzukommen und nicht darüber zu sprechen.«
»Es war nicht leicht«, räumte Gill kopfschüttelnd ein.
Julius brachte seinen Studenten immer den Unterschied zwischen vertikaler und horizontaler Selbstoffenbarung bei. Die Gruppe drängte, wie erwartet, auf eine vertikale Enthüllung – Einzelheiten aus der Vergangenheit, über das Ausmaß und die Dauer seines Trinkens –, während eine horizontale Offenbarung, das heißt, eine Offenlegung der Offenbarung, immer weitaus produktiver war.
Dieses Treffen bot hervorragenden Unterrichtsstoff, überlegte Julius und mahnte sich, die Reihenfolge der Ereignisse für künftige Vorlesungen und schriftliche Arbeiten nicht zu vergessen. Und dann fiel ihm jäh ein, dass die Zukunft keinerlei Relevanz für ihn hatte. Zwar war die giftige schwarze Warze aus seiner Schulter herausgeschnitten worden, aber er wusste, dass irgendwo in seinem Körper noch tödliche Kolonien des Melanoms erhalten waren, gefräßige Zellen, die sich mehr nach Leben sehnten als seine eigenen ermüdeten Zellen. Sie waren da, pulsierend, verschlangen Sauerstoff und Nährstoffe, wuchsen und sammelten Kraft. Und auch seine düsteren Gedanken waren da, brodelten unterhalb der Membran seines Bewusstseins. Gott sei Dank, dass er eine Methode gefunden hatte, um sein Entsetzen zu besänftigen: sich so ungestüm wie möglich ins Leben zu stürzen. Die außerordentliche Intensität der Erfahrungen in dieser Gruppe war eine sehr gute Arznei für ihn.
Er drängte Gill: »Erzählen Sie mehr darüber, was Ihnen in all den Monaten bei unseren Zusammenkünften durch den Kopf ging.«
»Wie meinen Sie das?«, fragte Gill.
»Na ja, Sie haben gesagt: ›Es war nicht leicht.‹ Erzählen Sie mehr darüber, über diese Treffen, und warum es nicht leicht war.«
»Ich kam immer voll präpariert her, aber ich wurde es nie los; irgendwas bremste mich immer.«
»Gehen Sie dem weiter nach – dem Irgendwas, das Sie bremste.« Julius spielte selten den Wegweiser in der Gruppe, doch jetzt war er überzeugt davon, dass er die Diskussion in eine positive Richtung lenken musste, die die Gruppe von selbst vielleicht nicht einschlagen würde.
»Ich mag diese Gruppe«, sagte Gill. »Das hier sind die wichtigsten Menschen in meinem Leben. Ich habe mich früher nie irgendwo richtig zugehörig gefühlt. Ich hatte Angst, meinen Platz hier zu verlieren, jede Glaubwürdigkeit zu verlieren – vor genau dem, was im Moment passiert. Vor genau dem. Die Leute hassen Säufer . . . die Gruppe wird mich rausschmeißen wollen . . . Sie werden mich zu den AA schicken. Die Gruppe wird mich verurteilen, statt mir zu helfen.«
Das war exakt das Stichwort, auf das Julius gewartet hatte. Rasch griff er ein.
»Gill, schauen Sie sich in diesem Raum um – wer sind hier die Richter?«
»Jeder ist Richter.«
»Jeder gleichermaßen? Das bezweifle ich. Versuchen Sie zu unterscheiden. Gehen Sie die Gruppe durch. Wer sind die schärfsten Richter?«
Gill hielt seinen Blick auf Julius gerichtet. »Na ja, Tony kann einen ganz schön hart anfassen, aber nein, nicht in diesem Fall – er trinkt auch ganz gern mal einen. So in der Art?«
Julius nickte ermutigend.
»Bonnie?« Gill wandte sich weiterhin direkt an Julius.
»Nein, sie verurteilt niemanden – außer sich
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