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Die Schopenhauer-Kur

Die Schopenhauer-Kur

Titel: Die Schopenhauer-Kur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Irvin D. Yalom
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für Arthur die Annehmlichkeiten oder Belohnungen nicht, die in seinem Kulturkreis für das innere Gleichgewicht, ja fürs Überleben, für so notwendig gehalten wurden. Wie schaffte er das? Welchen Preis zahlte er? Dies waren, wie wir sehen werden, die Geheimnisse, die er »Über mich« anvertraute.

»Die Denkmäler, die zurückgelassenen Gedanken (sind) mein
größter Genuß im Leben. Ihr todter Buchstabe spricht mich
vertrauter an, als das lebendige Daseyn der Zweifüßer.« Ref 114
32
    Beim Betreten des Gruppenraums in der folgenden Woche sah sich Julius einer merkwürdigen Szene gegenüber. Die Mitglieder waren, in ihre Sessel gelehnt, mit dem intensiven Studium von Philips Parabel beschäftigt. Stuart hatte sein Exemplar an einem Klemmbrett befestigt und nahm beim Lesen Unterstreichungen vor. Tony, der seine Kopie vergessen hatte, schaute Pam über die Schulter.
    Rebecca eröffnete die Sitzung mit einem Anflug von Ärger in ihrer Stimme: »Ich habe das hier mit gebührender Sorgfalt gelesen.« Sie hielt Philips Zettel hoch, faltete ihn und steckte ihn in ihre Handtasche. »Ich habe genügend Zeit darauf verwendet, Philip, eigentlich zu viel Zeit, und jetzt hätte ich gern, dass Sie mir oder der Gruppe oder Julius die Relevanz dieses Textes erschließen.«
    »Ich glaube, es wäre eine lohnendere Erfahrung, wenn die Klasse ihn zunächst erörtern würde«, entgegnete Philip.
    »Klasse? Genauso kommt es mir vor – wie eine Klassenarbeit. Führen Sie so Ihre Beratungen durch, Philip?«, fragte sie und ließ ihre Tasche zuschnappen. »Wie ein Lehrer im Klassenzimmer? Dazu bin ich nicht hergekommen; ich bin zur Behandlung hier, nicht zur Erwachsenenbildung.«
    Philip nahm Rebeccas Verstimmung nicht zur Kenntnis. »Im besten Falle existiert nur eine unscharf verlaufende Grenze
zwischen Ausbildung und Therapie. Die Griechen – Sokrates, Platon, Aristoteles, die Stoiker und die Epikureer –, sie alle hielten Bildung und Vernunft für die Werkzeuge, die zur Bekämpfung menschlichen Leidens notwendig sind. Die meisten philosophischen Berater betrachten Bildung als die Grundlage der Therapie. Fast alle haben sich Leibniz’ Motto Caritas sapientis verschrieben – das heißt ›die Nächstenliebe des Weisen‹.« Philip wandte sich an Tony. »Leibniz war ein deutscher Philosoph des 17. Jahrhunderts.«
    »Ich finde das ermüdend und überheblich«, sagte Pam. »Unter dem Vorwand, Julius zu helfen, machen Sie« – sie hob ihre Stimme um eine Oktave – »Philip, ich rede mit Ihnen . . .« Philip, der friedlich in die Luft gestarrt hatte, fuhr mit einem Ruck hoch und wandte sich Pam zu. »Erst verteilen Sie diese Schulaufgabe, und dann versuchen Sie, die Gruppe zu kontrollieren, indem Sie ihr Ihre Interpretation des Textes affektierterweise vorenthalten.«
    »Jetzt geht das schon wieder los, dass Sie Philip runterputzen«, sagte Gill. »Herrgott noch mal, Pam, er ist Berater von Beruf. Man braucht kein Raketenforscher zu sein, um darauf zu kommen, dass er versucht, sich mit seinem Fachwissen in die Gruppe einzubringen. Warum missgönnen Sie ihm alles?«
    Pam öffnete den Mund, um zu sprechen, machte ihn aber wieder zu, da sie anscheinend keine Worte fand. Sie starrte Gill an, der hinzufügte: »Sie wollten ein offenes Feedback, Pam. Hier haben Sie eins. Und, nein, ich habe nicht getrunken, falls Sie das denken. Ich bin den vierzehnten Tag trocken – ich habe mich zweimal wöchentlich mit Julius getroffen –, und der hat mir Druck gemacht, die Daumenschrauben angezogen und mich dazu gebracht, dass ich jeden Tag zu einem AA-Treffen gehe, sieben Tage die Woche, vierzehn Treffen in vierzehn Tagen. Ich habe es beim letzten Mal nicht erwähnt, weil ich nicht sicher war, ob ich durchhalten würde.«
    Alle Gruppenmitglieder bis auf Philip reagierten nachdrücklich
mit Nicken und Glückwünschen. Bonnie meinte, sie sei stolz auf ihn. Sogar Pam rang sich ein »Wie schön für Sie« ab. Tony sagte: »Vielleicht sollte ich mitkommen.« Er zeigte auf den blauen Fleck auf seiner Wange. »Bei mir führt das Saufen zum Raufen.«
    »Philip, was ist mit Ihnen? Keine Reaktion auf Gill?«, fragte Julius.
    Philip schüttelte den Kopf. »Er hat doch schon reichlich Unterstützung von anderen. Er ist trocken, nimmt kein Blatt vor den Mund, gewinnt an Stärke. Manchmal ist mehr Unterstützung weniger.«
    »Mir gefällt das Motto von Leibniz, das Sie zitiert haben, Caritas sapientis – die Nächstenliebe des Weisen«, sagte Julius.

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