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Die Schopenhauer-Kur

Die Schopenhauer-Kur

Titel: Die Schopenhauer-Kur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Irvin D. Yalom
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»Aber vergessen Sie bitte nicht den Teil mit der Nächstenliebe. Wenn Gill Unterstützung verdient, warum kommt sie dann von Ihnen immer zuletzt ? Und überdies verfügen Sie über einzigartige Informationen: Wer außer Ihnen könnte ausdrücken, was Sie dabei empfinden, wenn er Ihnen zu Hilfe kommt und sich Ihretwegen mit Pam anlegt?«
    »Gut gesagt«, erwiderte Philip. »Ich habe gemischte Gefühle. Ich habe mich über Gills Unterstützung gefreut, und gleichzeitig weckt sie Argwohn in mir. Verlass dich darauf, dass andere deine Schlachten schlagen, und deine eigene Muskulatur verkümmert.«
    »Also, ich muss mal wieder meine Unwissenheit offenbaren«, sagte Tony, auf das Blatt Papier deutend. »Diese Schiffsgeschichte, Philip – ich kapiere sie echt nicht. Sie haben uns letzte Woche erzählt, Sie wollten Julius was Tröstliches geben, dabei ist diese Geschichte über ein Schiff und Passagiere – ich meine, um es ganz offen zu sagen, ich weiß nicht, was zum Teufel die soll.«
    »Entschuldigen Sie sich nicht«, meinte Bonnie. »Ich habe Ihnen ja gesagt, Tony, dass Sie fast immer für mich mitsprechen – ich bin ebenso verwirrt wie Sie von diesem Schiff und dem Muschelsammeln.«

    »Ich auch«, warf Stuart ein. »Ich verstehe gar nichts.«
    »Lassen Sie mich helfen«, sagte Pam. »Schließlich verdiene ich mit der Interpretation von Literatur meinen Lebensunterhalt. Der erste Schritt besteht darin, vom Konkreten – das heißt, vom Schiff, von den Muscheln, den Schafen und so weiter  – zum Abstrakten überzugehen. In anderen Worten: Fragen Sie sich: Was repräsentiert dieses Schiff oder diese Reise oder dieser Hafen?«
    »Ich glaube, das Schiff soll der Tod sein oder die Reise in den Tod«, sagte Stuart mit einem Blick auf sein Klemmbrett.
    »Okay«, meinte Pam. »Und wie geht’s von da aus weiter?«
    »Mir scheint«, entgegnete Stuart, »die wichtigste Aussage ist: Schenke den Einzelheiten am Ufer nicht so viel Aufmerksamkeit, dass du das Schiff verpasst.«
    »Also«, sagte Tony, »wenn man zu sehr von den Sachen am Ufer gefesselt ist – oder auch von Frau und Kind –, fährt das Schiff womöglich ohne einen ab, anders gesagt, man verpasst seinen Tod. Na und – ist das so eine Katastrophe?«
    »Ja, klar, Sie haben Recht, Tony«, sagte Rebecca, »ich habe das Schiff auch als Tod verstanden, aber wenn Sie es so ausdrücken, sehe ich, dass das keinen Sinn ergibt.«
    »Ich begreife es auch nicht«, meinte Gill, »aber es heißt ja nicht, dass man seinen Tod verpasst; es heißt, dass man ihm zusammengeschnürt wie ein Schaf entgegengeht.«
    »Wie auch immer«, sagte Rebecca, »nach Therapie fühlt sich das immer noch nicht an.« Sie wandte sich an Julius. »Das hier soll doch für Sie sein. Finden Sie Trost darin?«
    »Ich wiederhole, was ich letzte Woche zu Ihnen gesagt habe, Philip. Was ich verstehe, ist, dass Sie mir etwas geben wollen, das meine Qual lindert. Und außerdem, dass Sie davor zurückscheuen, das auf direktem Wege zu tun. Sie wählen stattdessen eine weniger persönliche Herangehensweise. Ich finde, Sie sollten es sich auf die Tagesordnung setzen, Ihre Fürsorglichkeit persönlicher auszudrücken.«
    »Was den Inhalt betrifft«, fuhr Julius fort, »bin ich auch verwirrt,
aber ich verstehe ihn folgendermaßen: Da das Schiff jederzeit abfahren kann – das heißt, da der Tod uns in jeder Minute ereilen könnte –, sollten wir es vermeiden, uns zu sehr an die Dinge der Welt zu binden. Vielleicht ist es eine Warnung, dass tiefe Bindungen das Sterben schmerzlicher machen. Ist das die tröstliche Botschaft, die Sie mir übermitteln wollen, Philip?«
    »Ich glaube«, fiel Pam ein, ehe Philip antworten konnte, »es passt besser, wenn Sie sich das Schiff und die Reise nicht als den Tod vorstellen, sondern als das, was man als authentisches Leben bezeichnen könnte. Anders gesagt, leben wir authentischer, wenn wir uns auf die fundamentale Tatsache des bloßen Seins konzentrieren, des Wunders der Existenz an sich. Wenn wir uns auf das ›Sein‹ konzentrieren, lassen wir uns nicht so sehr von den Zerstreuungen des Lebens ablenken, das heißt, den materiellen Objekten auf der Insel, dass wir die Existenz selbst aus den Augen verlieren.«
    Ein kurzes Schweigen. Mehrere Köpfe wandten sich Philip zu.
    »Genau«, entgegnete Philip mit einem Anflug von Enthusiasmus. »Genau meine Ansicht. Der Gedanke ist der, dass man sich davor hüten muss, sich in den Zerstreuungen des Lebens zu verlieren.

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