Die Schopenhauer-Kur
hineinzuschauen und meine Gedanken zu sammeln. Und ich habe doch erklärt, dass für mich nur meine eigene Billigung zählt.«
Wieder senkte sich das merkwürdig überirdische Gefühl,
Philip sei unberührbar, auf die Gruppe. Tony, der es zerstreuen wollte, flüsterte hörbar: »Netter Versuch, Bonnie.«
Ohne die Augen zu öffnen, fuhr Philip fort: »Nicht lange, nachdem ich die Therapie bei Julius aufgegeben hatte, erbte ich einen ansehnlichen Betrag, eine Auszahlung von Schatzbriefen, die mein Vater für mich gekauft hatte und die jetzt fällig wurden. Das Geld versetzte mich in die Lage, meinen Beruf als Chemiker aufzugeben und mich ganz der Lektüre abendländischer Philosophie zu widmen – zum Teil wegen meines anhaltenden Interesses an dem Gebiet, aber in erster Linie, weil ich glaubte, dass ich irgendwo in der gesammelten Weisheit der großen Denker der Welt ein Heilmittel für meinen Zustand entdecken würde. Ich fühlte mich in der Philosophie zu Hause und stellte bald fest, dass ich meine wahre Berufung gefunden hatte. Ich bewarb mich an der Columbia als Doktorand der Philosophie und wurde angenommen. In dieser Zeit hatte Pam das Pech, mir über den Weg zu laufen.«
Philip, die Augen nach wie vor geschlossen, hielt inne und atmete tief ein. Alle Blicke waren auf ihn gerichtet bis auf einige verstohlene, die Pam galten, welche zu Boden starrte.
»Im Laufe der Zeit entschloss ich mich, meine Aufmerksamkeit auf die drei wahrhaft großen Philosophen zu konzentrieren : auf Platon, Kant und Schopenhauer. Aber letztlich war es nur Schopenhauer, der mir helfen konnte. Seine Worte waren nicht nur reines Gold für mich, sondern ich spürte auch eine starke Affinität zu seiner Person. Als rationales Wesen kann ich die Idee der Reinkarnation in ihrem vulgären Sinne nicht akzeptieren, doch wenn ich schon einmal gelebt hätte, dann als Arthur Schopenhauer. Das bloße Wissen um seine Existenz hat den Schmerz meiner Einsamkeit gemildert.
Nachdem ich sein Werk mehrere Jahre lang immer wieder gelesen hatte, stellte ich fest, dass ich meine sexuellen Probleme überwunden hatte. Als ich meinen Doktortitel erhielt, war das Vermächtnis meines Vaters aufgebraucht, und ich musste
mir meinen Lebensunterhalt verdienen. Ich lehrte in einigen Orten im ganzen Lande und zog vor ein paar Jahren wieder nach San Francisco, um eine Stelle an der Coastal University anzunehmen. Irgendwann verlor ich das Interesse am Unterrichten, weil ich nie Studenten hatte, die meiner oder meines Themas würdig waren, und dann, vor ungefähr drei Jahren, kam mir der Gedanke, dass ich, da die Philosophie mich geheilt hatte, mit Hilfe der Philosophie vielleicht auch andere heilen könnte. Ich machte eine Ausbildung als Berater und eröffnete dann eine kleine klinische Praxis. Und das bringt mich zur Gegenwart.«
»Julius war Ihnen nicht von Nutzen«, sagte Pam, »und trotzdem haben Sie wieder Kontakt zu ihm aufgenommen. Warum ?«
»Habe ich nicht. Das war er.«
Pam murmelte: »Klar, aus heiterem Himmel hat Julius Sie kontaktiert.«
»Nein, nein«, sagte Bonnie, »das stimmt; Julius hat es bestätigt, als Sie verreist waren. Ich kann Ihnen nichts darüber sagen, weil ich es selber nie so ganz verstanden habe.«
»Okay, dann trete ich mal auf den Plan«, sagte Julius. »Ich werde es so gut rekonstruieren, wie ich kann. In den ersten Tagen, nachdem ich von meinem Arzt die schlechte Nachricht erhalten hatte, war ich erschüttert und versuchte, eine Möglichkeit zu finden, damit fertig zu werden, dass ich tödlich an Krebs erkrankt war. Eines Abends geriet ich in sehr schlechte Stimmung, als ich über den Sinn meines Lebens nachdachte. Mich überwältigte die Vorstellung, dass ich ins Nichts hinübergleiten und für immer dort bleiben würde. Und wenn dem so war, was konnte dann irgendjemand oder irgendeine Tätigkeit noch daran ändern?
Ich erinnere mich nicht mehr an die ganze Kette meiner morbiden Gedanken, aber ich wusste, dass ich mich an etwas von Bedeutung klammern musste, sonst würde ich auf dem Trockenen ertrinken, an Ort und Stelle. Als ich mein Leben Revue
passieren ließ, wurde mir klar, dass ich dessen Sinn tatsächlich erfahren hatte – und zwar immer dann, wenn ich aus mir selbst herausgetreten war und anderen geholfen hatte, zu leben und sich zu verwirklichen. Deutlicher als je zuvor erkannte ich die zentrale Rolle meiner Arbeit als Therapeut, und dann dachte ich Stunden lang über die nach, denen ich geholfen hatte; all meine
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