Die Schopenhauer-Kur
speziell konstruiert hatte, um mir zu helfen. Er erörterte in aller Ausführlichkeit einen Abschnitt aus einem Roman von Thomas Mann, in dem ein Sterbender sich durch die Lektüre eines Textes von Schopenhauer sehr getröstet fühlt.«
»Welcher Roman?«, wollte Pam wissen.
»Buddenbrooks«, erwiderte Julius.
»Und das hat Ihnen nicht geholfen? Wieso nicht?«, fragte Bonnie.
»Aus mehreren Gründen. Erstens war Philips Art, mich zu trösten, sehr indirekt – ganz ähnlich wie seine Präsentation der Passage von Epiktet . . .«
»Julius«, sagte Tony, »ich will ja kein Klugscheißer sein, aber wäre es nicht besser, Philip direkt anzusprechen – und raten Sie mal, bei wem ich das gelernt habe.«
»Danke, Tony – Sie haben hundertprozentig Recht.« Julius wandte sich Philip zu. »Die Art und Weise, in der Sie mir mit
einer Vorlesung Ratschläge geben wollten, war unangenehm – zu indirekt und zu öffentlich. Und sehr unerwartet, weil wir nicht lange vorher eine Stunde mit einem privaten Gespräch verbracht hatten, in dem Ihnen meine Verfassung vollkommen gleichgültig zu sein schien. Das war das eine. Und das andere war der eigentliche Inhalt. Ich kann den Abschnitt hier nicht wiederholen – ich habe nicht Ihr fotografisches Gedächtnis –, doch im Wesentlichen beschrieb er einen sterbenden Patriarchen, der eine Erscheinung hat, bei der die Grenzen zwischen ihm und anderen sich auflösen. Als Folge davon war er getröstet durch die Einheit allen Lebens und die Vorstellung, dass er nach seinem Tod zu der Lebenskraft zurückkehren würde, der er entstammte, und so seine Verbundenheit mit allem Lebenden behalten würde. Stimmt das in etwa?« Julius schaute Philip an, der darauf nickte.
»Nun, Philip, ich habe ja schon versucht, Ihnen zu erklären, dass diese Vorstellung mir keinen Trost schenkt – null. Wenn mein Bewusstsein ausgelöscht wird, interessiert es mich wenig, ob meine Lebensenergie oder meine Körpermoleküle oder meine DNA im Weltraum weiterexistieren. Und wenn es um Verbundenheit geht, die erlebe ich lieber persönlich, am eigenen Leibe. Also« – er musterte die ganze Gruppe und sah dann Pam an – »das war die erste Tröstung, die Philip mir anbot, und die Parabel in Ihren Händen ist die zweite.«
Nach kurzem Schweigen fügte Julius hinzu: »Ich habe das Gefühl, ich habe heute zu viel geredet. Wie sind Ihre Reaktionen auf das, was bisher vorgefallen ist?«
»Ich finde es interessant«, sagte Rebecca.
»Ja«, stimmte Bonnie zu.
»Es ist ziemlich hochtrabendes Zeug dabei«, meinte Tony, »aber ich bleibe am Ball.«
»Ich bemerke hier anhaltende Spannungen«, sagte Stuart.
»Spannungen zwischen ...?«, fragte Tony.
»Zwischen Pam und Philip natürlich.«
»Und jede Menge zwischen Julius und Philip«, fügte Gill hinzu,
der wieder einmal für Philip eintrat. »Haben Sie denn das Gefühl, dass man Ihnen zuhört, Philip? Haben Sie das Gefühl, dass Ihre Beiträge die Beachtung finden, die sie verdienen?«
»Mir scheint, dass ... dass ... na ja ...« Philip war ungewöhnlich zaghaft, gewann aber rasch seine charakteristische Gewandtheit zurück. »Ist es nicht voreilig, so schnell –«
»Mit wem sprechen Sie?«, fragte Tony.
»Stimmt«, antwortete Philip. »Julius, ist es nicht voreilig, so schnell eine Idee abzutun, die einem Großteil der Menschheit seit Jahrtausenden so viel Trost schenkt? Epiktet ist der Meinung und Schopenhauer mit ihm, dass ein übertriebenes Festhalten an materiellen Gütern, an anderen Personen oder sogar am Konzept des ›Ich‹ die Hauptquelle menschlichen Leidens ist. Und folgt daraus nicht, dass derartiges Leiden gelindert werden kann, indem man solche Bindungen vermeidet? Tatsächlich stehen diese Ideen auch im Mittelpunkt der buddhistischen Lehre.«
»Das ist ein gutes Argument, Philip, und ich werde es mir zu Herzen nehmen. Ich höre Sie sagen, dass Sie mir etwas Gutes geben, was ich leichtfertig abtue – und das hinterlässt bei Ihnen das Gefühl, wenig geachtet zu sein. Richtig?«
»Ich habe nicht gesagt, dass ich mich wenig geachtet fühle.«
»Nicht laut. Das ist nur meine Intuition – es wäre eine sehr menschliche Reaktion. Ich habe den Verdacht, dass Sie, wenn Sie in sich hineinschauen, dort so etwas finden.«
»Pam, Sie verdrehen die Augen«, sagte Rebecca. »Erinnert Sie dieses Gerede übers Festhalten an Ihr Meditationszentrum in Indien? Julius, Philip – Sie beide waren nicht mit Kaffee trinken, als Pam ihre Zeit im
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