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Die Schopenhauer-Kur

Die Schopenhauer-Kur

Titel: Die Schopenhauer-Kur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Irvin D. Yalom
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aufgab. Seine
Hauptbeschwerde (»Warum kann ich nicht das tun, was ich eigentlich tun will?«) war ein spannendes Beispiel für Willenslähmung. Die Therapie mochte Philip zwar nicht genützt haben, aber Julius’ Schreiben förderte sie ungemein, und viele Ideen, die bei den Sitzungen zu Tage traten, fanden ihren Weg in seinen gefeierten Artikel »Der Therapeut und der Wille« sowie in sein Buch »Wünschen, Wollen und Handeln«. Es war ihm schon durch den Kopf geschossen, dass er Philip womöglich ausgebeutet hatte. Vielleicht konnte er das ja jetzt mit seinem gesteigerten Gefühl für Verbundenheit wiedergutmachen, vielleicht konnte er ja jetzt bewerkstelligen, woran er zuvor gescheitert war.
    Union Street Nummer 431 war ein bescheidenes einstöckiges, mit Stuck verziertes Eckhaus. Im Foyer sah Julius auf dem Gebäudewegweiser Philips Namen: »Dr. Philip Slate, Philosophische Beratung.« Philosophische Beratung? Was zum Teufel war das? Als Nächstes, schnaubte Julius, wird es Friseure geben, die eine Haartherapie anbieten, und Gemüsehändler, die Reklame für Hülsenfruchtberatung machen. Er stieg die Treppe hinauf und drückte die Klingel.
    Ein Summer ertönte, während die Tür sich mit einem Klicken öffnete, und Julius betrat ein winziges Wartezimmer mit kahlen Wänden, das nur mit einem wenig einladenden Zweisitzer aus schwarzem Vinyl möbliert war. Ein Stück dahinter, in der Tür zu seinem Büro, stand Philip und bedeutete Julius, ohne sich ihm zu nähern, er möge hereinkommen. Er streckte ihm nicht die Hand entgegen.
    Julius verglich Philips Äußeres mit seiner Erinnerung. Kam ziemlich genau hin. Keine wesentliche Veränderung in den letzten zwanzig Jahren bis auf einige sachte Falten um die Augen und ein wenig schlaffe Haut am Hals. Das hellbraune Haar war immer noch glatt nach hinten gekämmt, die grünen Augen waren immer noch ausdrucksstark und immer noch abgewandt. Julius entsann sich, wie selten sich in all ihren gemeinsamen Jahren ihre Blicke begegnet waren. Philip erinnerte ihn
an einen jener selbstbewusst autarken Mitschüler, die im Unterricht saßen und sich nie Notizen machten, während er und alle anderen sich mühten, jede Tatsache in ihr Heft zu kritzeln, die in einer Prüfung womöglich abgefragt werden konnte.
    Als er Philips Büro betrat, erwog Julius eine Witzelei über die spartanische Einrichtung – ein schäbiger, unaufgeräumter Schreibtisch, zwei unbequem wirkende, nicht zusammenpassende Stühle und eine Wand, die nur mit einem Diplom geschmückt war. Doch er überlegte es sich anders, setzte sich auf den Stuhl, auf den Philip deutete, verzog keine Miene und wartete darauf, dass Philip das Wort ergriff.
    »Nun, es ist lange her. Sehr lange.« Philip sprach in förmlichem, professionellem Ton und ließ kein Anzeichen von Nervosität darüber erkennen, dass er das Gespräch eröffnete und damit mit seinem ehemaligen Therapeuten die Rolle tauschte.
    »Zwanzig Jahre. Ich habe nachgeschaut.«
    »Und warum jetzt, Dr. Hertzfeld?«
    »Heißt das, dass wir den Smalltalk hinter uns haben?« Nein, verdammt!, schalt Julius sich. Hör auf damit! Er erinnerte sich an Philips fehlenden Sinn für Humor.
    Philip schien ungerührt. »Grundlagen der Gesprächstechnik, Dr. Hertzfeld. Sie kennen das ja. Den Rahmen festlegen. Wir haben bereits den Ort vereinbart, die Zeit – ich biete übrigens eine sechzigminütige Sitzung, nicht die fünfzigminütige Psychostunde – und das Honorar, beziehungsweise in Ihrem Fall, dass keins fällig ist. Der nächste Schritt sind also Zweck und Ziele. Ich versuche, Ihnen zu Diensten zu sein, Dr. Hertzfeld, damit diese Sitzung so effizient wie möglich für Sie ist.«
    »In Ordnung, Philip. Das weiß ich zu würdigen. Ihr ›Warum jetzt?‹ ist keine schlechte Frage – ich verwende sie ständig. Rückt die Sitzung ins rechte Licht. Bringt uns direkt zum Kern der Sache. Wie ich Ihnen schon am Telefon erzählt habe, haben gesundheitliche Probleme, erhebliche Probleme, dazu geführt,
dass ich zurückblicken, die Dinge einschätzen, meine Arbeit mit Patienten neu bewerten möchte. Vielleicht liegt es an meinem Alter – ich möchte eine Bilanz ziehen. Ich vermute, wenn Sie erst einmal fünfundsechzig sind, werden Sie verstehen, was ich meine.«
    »Was diese Bilanz angeht, werde ich Ihnen einfach glauben müssen. Mir ist der Grund dafür, dass Sie mich oder andere Klienten wiedersehen wollen, nicht unmittelbar einsichtig, und ich selbst verspüre keine Neigungen

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