Die Schopenhauer-Kur
Schwerarbeit für mich. Hartnäckig interessiert an den Therapiekosten (die er sich mühelos leisten kann). Bat mich um Reduzierung meines Honorars, was ich ablehnte. Schien unzufrieden, als ich ein paar Minuten später anfing, und zögerte nicht, sich zu erkundigen, ob wir diese Zeit am Ende der Sitzung nachholen würden. Fragte mich zweimal, wie lange genau er im Voraus eine Sitzung absagen müsse, um nicht bezahlen zu müssen.
Julius klappte die Akte zu und dachte: Heute, zweiundzwanzig Jahre danach, ist Philip Therapeut. Kann es auf der ganzen Welt einen ungeeigneteren Menschen für diese Aufgabe geben? Er wirkt ziemlich unverändert: nach wie vor kein Sinn für Humor, nach wie vor hinter Geld her (vielleicht hätte ich den Witz über seine Rechnung nicht machen sollen). Ein Therapeut ohne Humor? Und so kalt. Und diese gereizte Aufforderung, sich in seinem Büro zu treffen. Julius fröstelte es noch einmal.
»Das Leben ist eine mißliche Sache: ich habe mir vorgesetzt,
es damit hinzubringen, über dasselbe nachzudenken.«
3
Die Union Street war sonnig und festtäglich. Von den voll besetzten Tischen auf dem Bürgersteig vor Prego, Betelnut, Exotic Pizza und Perry’s drang das Klappern von Besteck und das Summen angeregter Gespräche beim Mittagessen. Aquamarinblaue und magentarote, an Parkuhren gebundene Luftballons kündigten einen Wochenendausverkauf an. Doch als Julius auf Philips Büro zuschlenderte, gönnte er den Speisenden oder den im Freien aufgehäuften, aus der Sommersaison übrig gebliebenen Designer-Klamotten keinen Blick. Ebenso wenig verweilte er vor einem seiner Lieblingsschaufenster, weder dem von Marita’s, einem Geschäft mit antiken japanischen Möbeln, noch dem des tibetanischen Ladens oder bei Asian Treasures, wo der farbenprächtig bemalte Dachziegel mit einer fantastischen Kriegerin aus dem 18. Jahrhundert ausgestellt war, an dem er selten vorbeiging, ohne ihn zu bewundern.
Auch das Sterben beschäftigte ihn nicht. Die Rätsel in Bezug auf Philip Slate boten Ablenkung von derart beunruhigenden Gedanken. Zunächst fragte er sich, warum er Philips Bild mit solch unheimlicher Deutlichkeit heraufbeschwören konnte. Wo hatten Philips Gesicht, sein Name, seine Geschichte all die Jahre gelauert? Er musste sich eingestehen, dass die Erinnerung an seine Erlebnisse mit Philip neurochemisch irgendwo in seiner Großhirnrinde gespeichert war. Höchstwahrscheinlich
siedelte sie in einem weit verzweigten »Philip«-Netz aus miteinander verknüpften Neuronen, das sich, wenn es von den richtigen Neurotransmittern aktiviert wurde, in Gang setzte und auf eine gespenstische Leinwand in seiner Großhirnrinde ein Bild von Philip projizierte. Er fand es erschreckend, sich vorzustellen, dass er in seinem Gehirn einen mikroskopisch kleinen ferngesteuerten Filmvorführer beherbergte.
Aber noch faszinierender war die Frage, warum er sich entschieden hatte, Philip aufzusuchen. Wieso holte er von all seinen ehemaligen Patienten gerade Philip aus den Tiefen seines Gedächtnisses hervor? War der Grund dafür einfach der, dass seine Therapie so schrecklich erfolglos gewesen war? Das konnte doch nicht alles sein! Schließlich gab es zahlreiche andere Patienten, denen er nicht hatte helfen können. Aber die meisten Gesichter und Namen dieser Fehlschläge waren spurlos verschwunden. Vielleicht lag es daran, dass die nicht erfolgreich Behandelten ihre Therapie zumeist rasch abgebrochen hatten; Philip dagegen war insofern ungewöhnlich, als er weiterhin kam. O Gott, und wie! Drei frustrierende Jahre lang versäumte er nie eine Sitzung. Verspätete sich nie, nicht um eine Minute – er war zu geizig, um einmal bezahlte Zeit zu vergeuden. Und dann eines Tages kam, ohne jede Vorwarnung, die simple und unwiderrufliche Ankündigung am Ende einer Stunde, dass dies seine letzte Sitzung gewesen sei.
Bis zum Schluss hatte Julius Philip nach wie vor für therapierbar gehalten, wobei er eigentlich sowieso bei jedem davon ausging. Wieso war er gescheitert? Philip meinte es ernst mit der Arbeit an seinen Problemen; er war fordernd, geistreich, höchst intelligent. Aber durch und durch unsympathisch. Julius nahm selten einen Patienten an, den er nicht mochte, doch er wusste, dass an seiner Abneigung gegen Philip nichts Persönliches war; keiner mochte ihn. Sein lebenslanger Mangel an Freunden kam nicht von ungefähr.
Obwohl er Philip vielleicht nicht gerade gern hatte, so liebte er doch das intellektuelle Rätsel, das er ihm
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