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Die Schopenhauer-Kur

Die Schopenhauer-Kur

Titel: Die Schopenhauer-Kur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Irvin D. Yalom
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damals war, an das Leben, das ich führte. Ich versuchte, so viele Frauen wie möglich zu verführen. Nach dem Koitus hatte ich für kurze Zeit Ruhe, aber bald überwältigte mich mein Verlangen wieder.«
    Julius unterdrückte ein Lächeln über Philips Verwendung des Wortes Koitus – er entsann sich des seltsamen Paradoxes, dass Philip in Fleischeslust geschwelgt, aber alle unanständigen Wörter gescheut hatte.
    »Nur in dieser kurzen Periode – unmittelbar nach dem Koitus«, fuhr Philip fort, »konnte ich richtig leben, in Harmonie mit mir – konnte ich mit den großen Geistern der Vergangenheit in Verbindung treten.«
    »Ich erinnere mich an Sie und Ihren Aristarchos und Ihren Zenon.«
    »Ja, sie und viele andere, aber die Pausen, die zwangsfreien Zeiten, waren einfach zu kurz. Heute bin ich befreit. Heute bewege ich mich ständig in einer höheren Sphäre. Aber lassen Sie mich weiter Rückschau auf meine Therapie bei Ihnen halten. Das ist doch Ihr wichtigstes Anliegen, oder?«
    Julius nickte.

    »Ich entsinne mich, dass ich von unserer Therapie sehr gefesselt war. Sie wurde zu einem weiteren Zwang, ersetzte jedoch meine sexuelle Zwanghaftigkeit leider nicht, sondern koexistierte bloß mit ihr. Ich entsinne mich, dass ich jeder Stunde mit großer Vorfreude entgegensah, und trotzdem endete sie jedes Mal mit Enttäuschung. Es fällt mir schwer, mich daran zu erinnern, was wir eigentlich taten – ich glaube, wir wollten meinen Zwang von meiner Lebensgeschichte her begreifen. Ihn verstehen – wir versuchten immer, ihn zu verstehen. Und doch erschien mir jede Lösung verdächtig. Keine Hypothese war richtig gefolgert oder gut begründet, und keine einzige hatte, was noch schlimmer war, die leiseste Auswirkung auf meine Sucht.
    Und es war eine Sucht. Das wusste ich. Und ich wusste, dass ich sie nur durch einen kalten Entzug loswerden konnte. Es dauerte lange, aber irgendwann wurde mir klar, dass Sie keine Ahnung hatten, wie Sie mir helfen sollten, und ich verlor das Vertrauen in unsere gemeinsame Arbeit. Ich erinnere mich, dass Sie übermäßig viel Zeit darauf verwendeten, meine Beziehungen zu erkunden – zu anderen und besonders zu Ihnen. Das hat mir nie eingeleuchtet. Damals nicht und heute nicht. Im Laufe der Zeit wurde es qualvoll für mich, zu Ihnen zu kommen, qualvoll, weiterhin unsere Beziehung zu ergründen, als ob sie real wäre oder dauerhaft oder irgendetwas anderes als das, was sie tatsächlich war: eine Dienstleistung.« Philip hielt inne und schaute Julius mit nach oben gedrehten Handflächen an, als wollte er sagen: »Sie wollten Offenheit – hier ist sie.«
    Julius war wie betäubt. Die Stimme eines anderen antwortete für ihn: »Das ist wirklich sehr offen. Danke, Philip. Jetzt den Rest Ihrer Geschichte. Wie ist es Ihnen seither ergangen?«
    Philip legte seine Handteller aneinander, stützte sein Kinn mit den Fingerspitzen ab, starrte an die Decke, um seine Gedanken zu sammeln, und fuhr dann fort: »Also, mal sehen. Ich fange mit der Arbeit an. Meine Sachkenntnis bei der Entwicklung
hormoneller Wirkstoffe zur Verhinderung der Reproduktion von Insekten war sehr wichtig für die Firma, und mein Gehalt eskalierte. Aber die Chemie langweilte mich immer mehr. Dann, als ich dreißig war, wurden Schatzbriefe meines Vaters fällig und mir zugeteilt. Es war ein Geschenk, mit dem ich meine Freiheit gewann. Ich hatte genug, um mehrere Jahre davon zu leben, bestellte meine Abonnements für die Chemiejournale ab, verabschiedete mich vom Arbeitsmarkt und wandte mich dem zu, was ich eigentlich vom Leben wollte – dem Erlangen von Weisheit.
    Ich war immer noch unglücklich, immer noch unruhig, immer noch von sexuellen Zwängen getrieben. Ich probierte andere Therapeuten aus, aber keiner konnte mir mehr helfen als Sie. Einer von ihnen, der bei Jung studiert hatte, wies darauf hin, dass ich mehr bräuchte als eine Psychotherapie. Er meinte, für einen Süchtigen wie mich bestehe die größte Hoffnung auf Erlösung in einer spirituellen Umkehr. Sein Vorschlag führte mich an die religiöse Philosophie heran – besonders an die Ideen und Praktiken des Fernen Ostens –, sie waren die einzigen, die mir einleuchteten. Alle anderen Glaubenssysteme schafften es nicht, die fundamentalen philosophischen Fragen zu ergründen, sondern benutzten Gott nur dazu, einer echten philosophischen Analyse aus dem Weg zu gehen. Ich verbrachte sogar ein paar Wochen in einem Meditationszentrum. Das war nicht uninteressant.

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