Die Schopenhauer-Kur
in dieser Richtung. Meine Klienten zahlen mir ein Honorar, und dafür gebe ich ihnen meinen sachkundigen Rat. Dort endet unsere Transaktion. Wenn wir uns trennen, haben sie das Gefühl, etwas für ihr Geld erhalten zu haben, und ich habe das Gefühl, dass ich sie gut bedient habe. Ich kann mir unmöglich vorstellen, dass ich in Zukunft den Wunsch verspüre, sie wiederzusehen. Aber ich stehe Ihnen zu Diensten. Wo fangen wir an?«
Julius hielt sich üblicherweise in Gesprächen selten zurück. Das war eine seiner Stärken – die Leute wussten, dass er offen und ehrlich war. Doch heute zwang er sich zur Zurückhaltung. Er war verblüfft von Philips Schroffheit, aber er war nicht hier, um Philip Ratschläge zu erteilen. Was er wollte, war Philips aufrichtige Version ihrer gemeinsamen Arbeit, und je weniger er über seine seelische Verfassung sagte, desto besser. Wenn Philip von seiner Verzweiflung wusste, von seiner Suche nach Sinn, von seiner Sehnsucht danach, eine nachhaltige, wesentliche Rolle in Philips Leben gespielt zu haben, gab Philip ihm aus einem gewissen Mitgefühl heraus womöglich nur die Bestätigung, die er brauchte. Oder er tat wegen seiner Widerspenstigkeit genau das Gegenteil.
»Also, dann werde ich damit beginnen, Ihnen dafür zu danken, dass Sie so nett sind, mich zu empfangen. Als Erstes möchte ich Folgendes: zunächst Ihre Ansicht über unsere gemeinsame Arbeit hören – wie sie Ihnen geholfen hat und wie nicht –, und zweitens – das ist eine große Zumutung, ich weiß – hätte ich gern eine Zusammenfassung Ihres Lebens seit
unserem letzten Treffen. Ich höre immer gern das Ende einer Geschichte.«
Falls Philip von dieser Bitte überrascht war, ließ er sich nichts anmerken. Er saß nur eine Weile schweigend da, mit geschlossenen Augen, die Fingerspitzen seiner Hände aneinander gelegt. Nach einer wohl überlegten Pause setzte er an. »Die Geschichte ist noch nicht zu Ende – mein Leben hat in den letzten Jahren eine solch erstaunliche Wendung genommen, dass ich eigentlich das Gefühl habe, es fängt eben erst an. Aber ich werde streng chronologisch vorgehen und mit meiner Therapie beginnen. Alles in allem muss ich sagen, dass meine Therapie bei Ihnen ein kompletter Misserfolg war. Ein Zeit raubender und teurer Misserfolg. Ich glaube, ich habe meine Aufgabe als Patient erfüllt. Soweit ich mich entsinne, war ich äußerst kooperativ, arbeitete hart, kam regelmäßig, bezahlte meine Rechnungen, erinnerte mich an Träume, folgte allen Hinweisen, die Sie mir gaben. Stimmen Sie mir zu?«
»Dass Sie ein kooperativer Patient waren? Absolut. Ich würde sogar weiter gehen. Ich würde sagen, Sie waren ein sehr engagierter Patient.«
Philip schaute zur Decke, nickte und fuhr fort: »Soweit ich mich entsinnen kann, kam ich volle drei Jahre zu Ihnen. Und einen Großteil der Zeit zweimal wöchentlich. Das sind eine Menge Stunden – mindestens zweihundert. Rund zwanzigtausend Dollar.«
Julius hätte ihn beinahe unterbrochen. Wenn ein Patient eine derartige Äußerung machte, war seine Reaktion gewöhnlich: »Ein Tropfen auf den heißen Stein.« Und er wies dann immer darauf hin, dass die Punkte, die in der Therapie bearbeitet wurden, im Leben des Patienten seit so langer Zeit ein Problem darstellten, dass man kaum erwarten konnte, sie würden sich schnell erledigen. Oft fügte er noch etwas Persönliches hinzu – dass seine erste Therapie, eine Psychoanalyse während seiner Ausbildung, drei Jahre gedauert und fünfmal pro Woche stattgefunden hatte – insgesamt über siebenhundert Stunden. Doch
Philip war nicht mehr sein Patient, und er war nicht hier, um ihn von irgendetwas zu überzeugen. Er war hier, um zuzuhören. Deshalb biss er sich wortlos auf die Lippen.
Philip sprach weiter. »Als ich bei Ihnen anfing, war ich am Tiefpunkt meiner Existenz angelangt, ›völlig im Eimer‹ wäre vielleicht treffender. Ich arbeitete als Chemiker, entwickelte neue Methoden, Insekten zu töten, und war gelangweilt von meiner Karriere, gelangweilt von meinem Leben, gelangweilt von allem außer der Lektüre von philosophischen Werken und dem Nachsinnen über die großen Rätsel der Menschheitsgeschichte. Aber der Grund dafür, dass ich zu Ihnen kam, war mein sexuelles Verhalten. Sie erinnern sich natürlich daran?«
Julius nickte.
»Ich hatte es nicht unter Kontrolle. Alles, worauf ich aus war, war Sex. Ich war davon besessen. Ich war unersättlich. Es schaudert mich, daran zu denken, wie ich
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