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Die Schopenhauer-Kur

Die Schopenhauer-Kur

Titel: Die Schopenhauer-Kur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Irvin D. Yalom
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Ihre Weltsicht teile, dass ich alles ebenso erlebe wie Sie.«
    »Ich wünsche mir nur, Sie hätten meinen Schmerz geteilt, so gelitten wie ich.«
    »In dem Fall habe ich gute Neuigkeiten für Sie. Sie werden sich freuen zu hören, dass Ihre Freundin Molly nach dem Vorfall jedem Mitglied meines Fachbereichs sowie dem Universitätspräsidenten, dem Vorsteher und dem Senat der Fakultät einen Brief schrieb, in dem sie mich verurteilte. Obwohl ich meinen
Doktor mit Auszeichnung gemacht hatte und trotz meiner hervorragenden Bewertungen seitens der Studenten, darunter übrigens auch eine von Ihnen, war nicht ein Mitglied der Fakultät bereit, ein Empfehlungsschreiben für mich zu verfassen oder mir sonstwie zu helfen, eine Stellung zu finden. Daher kam ich nie zu einer anständigen Anstellung und habe mich in den letzten Jahren als Dozent auf Wanderschaft an einer Reihe unwürdiger, drittklassiger Hochschulen abgemüht.«
    Stuart, der hart daran arbeitete, sein Einfühlungsvermögen zu entwickeln, erwiderte: »Also haben Sie sicher das Gefühl, dass Sie Ihre Strafe erhalten haben und die Gesellschaft Ihnen einen hohen Preis abverlangt hat.«
    Philip schaute überrascht zu Stuart auf. Er nickte. »Nicht so hoch wie der, den ich mir selbst abverlangt habe.«
    Erschöpft sackte er in seinem Sessel zusammen. Nach ein paar Momenten richteten sich alle Blicke auf Pam, die, unversöhnt, die ganze Gruppe ansprach: »Begreifen Sie nicht, dass ich nicht von einer einzigen verbrecherischen Tat rede? Ich rede über eine anhaltende Art und Weise, sich in der Welt zu bewegen. Hat es Sie nicht gefröstelt, als Philip sein Verhalten bei unserem Liebesakt als seine ›Verpflichtung gegenüber unserem sozialen Kontrakt‹ bezeichnete? Und was ist mit seiner Bemerkung, er habe sich trotz der drei Jahre mit Julius ›zum ersten Mal‹ verstanden gefühlt, als er Schopenhauer las? Sie alle kennen Julius. Können Sie glauben, dass Julius ihn nach drei Jahren nicht verstanden hat?«
    Die Gruppe schwieg. Nach einer Weile wandte Pam sich an Philip. »Wollen Sie den Grund dafür wissen, dass Sie sich von Schopenhauer verstanden fühlten und von Julius nicht? Ich sage Ihnen, warum: weil Schopenhauer tot ist, tot seit über hundertvierzig Jahren, und Julius lebt. Und Sie haben keine Ahnung, wie man sich mit Lebenden einlässt.«
    Philip sah nicht so aus, als würde er antworten, und Rebecca sprang ein: »Pam, Sie sind boshaft. Gibt es denn nichts, was Sie beschwichtigen könnte?«

    »Philip ist nicht schlecht, Pam«, sagte Bonnie, »er ist gebrochen. Erkennen Sie das nicht? Sehen Sie den Unterschied nicht?«
    Pam schüttelte den Kopf und entgegnete: »Weiter schaffe ich es heute nicht mehr.«
    Nach einem spürbar unbehaglichen Schweigen griff Tony ein, der bisher untypisch still gewesen war. »Philip, das soll jetzt kein Rettungsanker für Sie sein, aber ich frage mich Folgendes : Haben Sie irgendwelche Empfindungen gehabt, nachdem Julius uns vor ein paar Monaten von seinen sexuellen Eskapaden nach dem Tod seiner Frau erzählte?«
    Philip schien dankbar für die Ablenkung. »Was für Empfindungen hätte ich denn haben sollen ?«
    »Mit dem › Sollen‹, das weiß ich nicht. Ich frage Sie nur, was Sie tatsächlich empfanden. Oder anders gefragt: Hätten Sie bei Ihrer ersten Therapie bei Julius das Gefühl gehabt, besser von ihm verstanden zu werden, wenn er Ihnen verraten hätte, dass er selbst persönliche Erfahrungen mit sexuellem Druck hatte?«
    Philip nickte. »Das ist eine interessante Frage. Die Antwort ist: vielleicht ja. Es hätte hilfreich sein können. Ich habe keinen Beweis dafür, aber Schopenhauers Schriften legen nahe, dass seine sexuellen Gefühle meinen in ihrer Intensität und Unbarmherzigkeit ähnlich waren. Ich glaube, deshalb fühlte ich mich so verstanden von ihm.
    Aber es gibt noch etwas, das ich ausgelassen habe, als ich von meiner Arbeit mit Julius sprach, und ich möchte das jetzt klarstellen. Als ich ihm sagte, seine Therapie sei für mich ohne jeden Wert gewesen, konfrontierte er mich mit derselben Frage, die irgendwann in der Gruppe gestellt wurde: Warum wollte ich einen so nutzlosen Therapeuten als Supervisor? Seine Frage half mir, mich an ein paar Geschehnisse in der Therapie zu erinnern, die bei mir hängen geblieben waren und sich tatsächlich als nützlich erwiesen hatten.«
    »Zum Beispiel?«, wollte Tony wissen.

    »Als ich ihm schilderte, wie bei mir typischerweise eine routinemäßige sexuelle Verführung

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