Die Schopenhauer-Kur
Woche. Ehrlich gesagt, kenne ich niemanden, der das nicht tut.«
»Ich tue es auch«, gestand Gill. »Auch so eins von Roses Lieblingsärgernissen.«
Mehrere Köpfe wandten sich Stuart zu. »Ja, ja, mea culpa – ich gönne mir das ab und zu.«
»Genau das meinte ich«, sagte Philip. »Ist denn dann jeder süchtig?«
»Na schön«, sagte Rebecca, »ich verstehe Ihr Argument. Es sind nicht nur die Pornos, es gibt auch eine Epidemie von Anzeigen wegen Belästigung. Ich habe in meiner Kanzlei etliche Beschuldigte verteidigt. Neulich las ich einen Artikel über den Dekan einer bedeutenden juristischen Fakultät, der zurücktrat, weil er wegen sexueller Belästigung angeklagt wurde. Und dann sind da natürlich der Fall Clinton und die Art und Weise, wie seine potenziell großartige Stimme zum Schweigen gebracht wurde. Und dann überlegen Sie mal, wie viele von Clintons Anklägern sich ähnlich verhielten.«
»Jeder hat ein dunkles Sexleben«, meinte Tony. »Manchmal ist es eben so, dass einer Pech hat. Vielleicht sind Männer einfach Männer. Gucken Sie mich an, meine Erfahrung mit dem Strafvollzug, weil ich Lizzie zu einem Blowjob zwingen wollte. Ich kenne hundert Typen, die Schlimmeres verbrochen haben – ohne Konsequenzen –, nehmen Sie nur Schwarzenegger.«
»Tony, Sie machen sich bei den Frauen hier nicht beliebt. Zumindest nicht bei mir«, sagte Rebecca. »Aber ich möchte das Wesentliche nicht aus den Augen verlieren. Philip, reden Sie weiter, Sie sind immer noch nicht zur Sache gekommen.«
»Zunächst einmal«, fuhr Philip, ohne zu zögern, fort, »hat Schopenhauer, statt sich über das schrecklich lasterhafte
männliche Verhalten aufzuregen, schon vor zweihundert Jahren die ihm zu Grunde liegende Realität erkannt: die Furcht einflößende Macht des Geschlechtstriebs. Er ist die elementarste Kraft in uns – der Wille zu leben, der Drang zur Reproduktion –, und er lässt sich nicht stillen. Er lässt sich nicht wegdiskutieren. Ich habe ja schon darüber gesprochen, dass er beschreibt, wie der Sex sich in alles einschleicht. Schauen Sie sich die Skandale um katholische Priester an, schauen Sie sich jede Ebene menschlichen Strebens an, jeden Beruf, jede Kultur, jede Altersklasse. Dieser Standpunkt war mir äußerst wichtig, als ich Schopenhauers Werk kennen lernte: Hier war einer der klügsten Männer in der Geschichte, und zum ersten Mal in meinem Leben fühlte ich mich vollkommen verstanden.«
»Und?«, fragte Pam, die bisher geschwiegen hatte.
»Und was?«, gab Philip zurück, sichtlich nervös wie immer, wenn Pam ihn ansprach.
»Und was sonst noch? Das war’s? Das hat es bewirkt? Es ging Ihnen besser, weil Sie sich von Schopenhauer verstanden fühlten?«
Philip schien Pams Ironie nicht zu bemerken und erwiderte in ruhigem, aufrichtigem Ton: »Da war noch wesentlich mehr. Schopenhauer machte mir bewusst, dass wir dazu verurteilt sind, uns endlos auf dem Rad des Wollens zu drehen: Wir wünschen uns etwas, wir bekommen es, wir genießen einen kurzen Moment der Befriedigung, die sich rasch zur Langeweile abschwächt, auf die dann unweigerlich das nächste ›Ich will‹ folgt. Das Verlangen zu stillen, ist kein Ausweg – man muss ganz von dem Rad abspringen. Das tat Schopenhauer, und das habe ich auch getan.«
»Vom Rad abspringen? Und was bedeutet das?«, fragte Pam.
»Es bedeutet, sich dem Wollen völlig zu entziehen. Es bedeutet, ganz und gar zu akzeptieren, dass unser innerstes Wesen ein nicht zu befriedigendes Begehren ist, dass das Leiden
uns von Anfang an einprogrammiert ist und dass wir durch unsere Natur an sich dem Untergang geweiht sind. Es bedeutet, dass wir erst die grundsätzliche Nichtigkeit dieser Welt der Illusion erfassen und uns dann daran machen müssen, eine Möglichkeit zu finden, das Wollen zu negieren. Wir müssen uns wie alle großen Künstler zum Ziel setzen, in der reinen Welt der platonischen Ideen zu leben. Manche schaffen das durch die Kunst, manche durch religiöse Askese. Schopenhauer schaffte es, indem er das Verlangen mied, mit den großen Denkern der Geschichte kommunizierte, und durch ästhetische Kontemplation – er spielte jeden Tag ein, zwei Stunden lang Flöte. Es bedeutet, dass man Beobachter und Akteur werden muss. Man muss sich der Lebenskraft bewusst werden, die überall in der Natur existiert, die sich im Sein jedes Menschen individuell manifestiert und ihm irgendwann genommen wird, wenn der Mensch nicht mehr als physisches Gebilde
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