Die Schopenhauer-Kur
regelmäßigen Lebenslaufe des Individuums gehört ... Darum kann es mich auch nicht wundem, wenn mein persönlicher Lebenslauf unzusammenhängend und in sich planlos aussieht.« Schopenhauers Überzeugung von seiner Genialität verschaffte ihm außerdem das dauerhafte Gefühl, ein sinnvolles Leben zu führen: Bis an sein Ende betrachtete er sich als einen Missionar der Wahrheit für die menschliche Rasse.
Einsamkeit war der Dämon, der Schopenhauer am meisten quälte, und er wurde Experte darin, Schutzwälle gegen sie zu errichten. Am wirkungsvollsten war natürlich die Überzeugung, er sei Herr seines Schicksals – nicht die Einsamkeit habe ihn, sondern er habe die Einsamkeit gewählt. Als er jünger war, habe er, so behauptete er, eine Neigung zu geselligem Umgang gehabt, doch danach: »Von da ab habe ich allmählich ein ›Einsamkeit
blickendes Auge‹ bekommen, bin systematisch ungesellig geworden und habe mir vorgenommen, den Rest des flüchtigen Lebens ganz mir selbst zu widmen.« Ref 124
Seine Verteidigung der Isolation war also allumfassend: Er habe die Einsamkeit freiwillig gewählt, andere Menschen seien seiner Gesellschaft unwürdig, die auf seiner Genialität basierende Mission seines Lebens erfordere Einsamkeit, das Leben von Genies müsse ein »Monodrama« sein und ihr Privatleben einem Zweck dienen: ihre geistige Entwicklung zu fördern.
Ab und zu ächzte Schopenhauer unter der Last der Isolation. »Mein ganzes Leben hindurch habe ich mich schrecklich einsam gefühlt und stets aus tiefer Brust geseufzt: ›Jetzt gieb mir einen Menschen!‹ Vergebens. Ich bin einsam geblieben. Aber ich kann aufrichtig sagen, es hat nicht an mir gelegen: ich habe Keinen von mir gestoßen, Keinen geflohen, der an Geist und Herz ein Mensch gewesen ist.« Ref 125
Überdies, schrieb er, sei er nicht wirklich einsam, denn – und hier eine weitere effektive Selbsthilfestrategie – er habe seinen eigenen Kreis enger Freunde: die großen Denker der Welt.
Nur einer von ihnen war Zeitgenosse, Goethe; die meisten anderen entstammten der Antike, besonders die Stoiker, die er häufig zitierte. Auf fast jeder Seite von »Über mich« ist der Aphorismus eines klugen Kopfes zu finden, der seine eigenen Überzeugungen stützt. Typische Beispiele:
Das ist der beste Helfer dem Geist, der die quälende Bande, Die umstricken das Herz, einmal für allemal bricht. – Ovid Ref 126
Wer Ruhe sucht, meide das Weib, die ständige Werkstätte von Streitigkeiten und Beschwerden. – Petrarca Ref 127
Es ist unmöglich, daß einer nicht vollkommen glücklich sei, der ganz von sich selbst abhängt und in sich allein alles (was er sein nennt) besitzt. – Cicero Ref 128
Eine Technik, die manche Gruppentherapeuten anwenden, ist die »Wer bin ich?«-Übung; die Mitglieder schreiben sieben Antworten auf diese Frage nieder, jede auf ein anderes Kärtchen, und sortieren die Kärtchen dann nach Wichtigkeit. Anschließend werden sie aufgefordert, eine Karte nach der anderen umzudrehen, angefangen mit der unbedeutendsten Antwort, und darüber zu meditieren, wie es wäre, sich von dieser Antwort zu lösen (das heißt, sich nicht mehr mit ihr zu identifizieren), bis sie zu den Attributen ihres innersten Wesenskerns gelangen.
Auf ähnliche Weise probierte Schopenhauer verschiedene Attribute für sich aus und verwarf sie wieder, bis er dort ankam, wo er seine Kernpersönlichkeit vermutete.
»Wenn ich zu Zeiten mich unglücklich gefühlt, so ist dies mehr nur vermöge einer méprise , eines Irrthums in der Person geschehen, ich habe mich dann für einen Andern gehalten, als ich bin, und nun dessen Jammer beklagt: z. B. für einen Privatdocenten, der nicht Professor wird und keine Zuhörer hat, oder für Einen, von dem dieser Philister schlecht redet und jene Kaffeeschwester klatscht, oder für den Beklagten in jenem Injurienprozesse, oder für den Liebhaber, den jenes Mädchen, auf das er capricirt ist, nicht erhören will, oder für den Patienten, den seine Krankheit zu Hause hält, oder für andere ähnliche Personen, die an ähnlichen Misèren laboriren: das Alles bin ich nicht gewesen, das Alles ist fremder Stoff, aus dem höchstens der Rock gemacht gewesen ist, den ich eine Weile getragen und dann gegen einen andern abgelegt habe. Wer aber bin ich denn? Der, welcher die Welt als Wille und Vorstellung geschrieben und vom großen Problem des Daseins eine Lösung gegeben, welche vielleicht die bisherigen antiquiren . . . Der bin ich, und was
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