Die Schopenhauer-Kur
der ein Ziel trifft, welches
die übrigen nicht erreichen können; das Genie dem, der
eines trifft, bis zu welchem sie nicht einmal zu sehn
vermögen.« Ref 3
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1787 – Der Genius: Stürmischer Beginn und Fehlstart
Stürmischer Beginn – Der Genius war erst zehn Zentimeter groß, als die Stürme einsetzten. Im September 1787 wogte das ihn umgebende Fruchtwassermeer heftig, warf ihn hin und her und gefährdete seine fragile Verbindung zum Ufer des Uterus. Die See stank nach Wut und Angst. Die sauren Chemikalien der Nostalgie und Verzweiflung umspülten ihn. Für immer vergangen waren die süßen Tage des sacht schaukelnden Tanzes. Ohne Ausweg oder Hoffnung auf Trost flammten seine winzigen Nervenkontaktstellen auf und feuerten in alle Richtungen.
Was man jung lernt, lernt man am besten. Arthur Schopenhauer vergaß seine frühesten Lektionen nie.
Fehlstart (oder: Wie Arthur Schopenhauer beinahe Engländer wurde) – Arthurrr. Arthurrr, Arthurrr. Heinrich Floris Schopenhauer kraulte jede Silbe mit der Zunge. Arthur – ein guter Name, ein hervorragender Name für den künftigen Leiter des großen Handelshauses Schopenhauer.
Es war 1787, und seine junge Frau Johanna war im dritten Monat schwanger, als Heinrich Schopenhauer eine Entscheidung
traf: Wenn er einen Sohn bekäme, würde er ihn Arthur nennen. Als ehrenwerter Mann ließ Heinrich nicht zu, dass etwas über die Pflicht ging. Ebenso wie seine Ahnen ihm die Verwaltung des großartigen Handelshauses übertragen hatten, würde er sie seinem Sohn übertragen. Die Zeiten waren gefährlich, aber Heinrich vertraute darauf, dass sein noch ungeborener Sohn die Firma sicher ins 19. Jahrhundert steuern würde. Arthur war der ideale Name für die Position. Es war ein Name, der in allen wichtigen europäischen Sprachen gleich buchstabiert wurde, ein Name, der mit Eleganz jede nationale Grenze überwinden würde. Doch was am wichtigsten war, es war ein englischer Name!
Jahrhunderte lang hatten Heinrichs Vorfahren die Geschäfte der Schopenhauers mit Umsicht und Erfolg geführt. Heinrichs Großvater hatte einst Katharina die Große von Russland zu Gast gehabt und, um ihren Komfort zu gewährleisten, Branntwein über die Böden der Gästezimmer gießen und ihn dann anzünden lassen, damit die Räume trocken und wohlriechend wären. Heinrichs Vater war vom preußischen König Friedrich aufgesucht worden, der Stunden mit dem erfolglosen Versuch zubrachte, ihn zu einer Verlegung der Firma von Danzig nach Preußen zu überreden. Und nun lag die Verwaltung des großen Handelshauses in den Händen von Heinrich, der überzeugt davon war, dass ein Schopenhauer mit Namen Arthur das Unternehmen in eine strahlende Zukunft geleiten würde.
Das Haus Schopenhauer, das mit Getreide, Holz und Kaffee handelte, war lange eine der führenden Firmen Danzigs gewesen, jener ehrwürdigen Hansestadt, die lange den Handel im Baltikum dominiert hatte. Aber für die prachtvolle freie Stadt waren schwere Zeiten gekommen. Im Westen drohte Preußen, im Osten Russland, und angesichts eines geschwächten Polens, das nicht mehr in der Lage war, Danzigs Souveränität zu garantieren, zweifelte Heinrich Schopenhauer nicht daran, dass seine Tage der Freiheit und Stabilität gezählt waren. Ganz
Europa war im politischen und finanziellen Aufruhr – bis auf England. England war der Fels in der Brandung. England war die Zukunft. Firma und Familie Schopenhauer würden in England eine sichere Zuflucht finden. Nein, mehr als eine sichere Zuflucht, das Geschäft würde florieren, wenn ihr künftiger Vorstand als Engländer geboren werden und einen englischen Namen tragen würde. Herr Arthurrr Schopenhauer, nein – Mister Arthurrr Schopenhauer –, ein englischer Untertan an der Spitze des Unternehmens: das war die Eintrittskarte in die Zukunft. Ref 4
Also beachtete Heinrich die Proteste seiner noch fast halbwüchsigen Frau nicht, die bei der Geburt ihres ersten Kindes unbedingt die beruhigende Gegenwart ihrer Mutter spüren wollte, sondern brach mit ihr auf die lange Reise nach England auf. Die junge Johanna war entsetzt, musste sich aber dem unbeugsamen Willen ihres Ehemanns fügen. In London angekommen, kehrte Johannas schwungvolle Fröhlichkeit jedoch zurück, und ihr Charme betörte schon bald die Londoner Gesellschaft. Sie schrieb in ihr Reisetagebuch, dass ihre lieben neuen englischen Freunde ihr tröstend zur Seite stünden und dass sie in kürzester Zeit viel Aufmerksamkeit geweckt
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