Die Schopenhauer-Kur
habe.
Anscheinend zu viel Aufmerksamkeit und zu viel Liebe für den mürrischen Heinrich, dessen ängstliche Eifersucht schnell in Panik ausartete. Er hatte das Gefühl, nicht mehr atmen zu können, er meinte, die Spannung in seiner Brust würde ihn in Stücke reißen, er musste etwas unternehmen. Also machte er eine Kehrtwende, verließ London abrupt und kutschierte seine protestierende Frau, die mittlerweile fast im siebten Monat war, in einem der strengsten Winter des Jahrhunderts zurück nach Danzig. Jahre später beschrieb Johanna ihre Gefühle bei diesem plötzlichen Aufbruch aus London: »Mir hat keiner geholfen, ich mußte meinen Kummer alleine überwinden. Der Mann aber schleppt mich, um mit seiner Angst fertig zu werden, durch halb Europa.«
Dies also war der stürmische Beginn der Entstehung des Genius: eine lieblose Ehe, eine erschreckte, protestierende Mutter, ein ängstlicher, eifersüchtiger Vater und zwei mühsame Reisen durch ein winterliches Europa.
»Ein glückliches Leben ist unmöglich: das höchste, was der
Mensch erlangen kann, ist ein heroischer Lebenslauf .« Ref 5
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Als er Philips Praxis verließ, fühlte sich Julius wie betäubt. Er ergriff das Treppengeländer, stieg schwankend die Stufen hinab und taumelte in den Sonnenschein. Vor dem Gebäude blieb er stehen und versuchte zu entscheiden, ob er nach links oder rechts gehen sollte. Die Freiheit eines nicht verplanten Nachmittags brachte eher Verwirrung als Freude. Julius hatte immer einen vollen Terminkalender gehabt. Wenn er keine Patienten empfing, verlangten andere Projekte und Aktivitäten – Schreiben, Unterrichten, Tennis, die Forschung – seine Aufmerksamkeit. Aber heute erschien ihm nichts wichtig. Er argwöhnte, dass nichts jemals wichtig gewesen war, dass seine Fantasie willkürlich bestimmten Vorhaben Wichtigkeit zugeschrieben und dann listig ihre Spuren verwischt hatte. Heute durchschaute er die Tricks eines ganzen Lebens. Heute hatte er nichts Wichtiges zu tun, und so schlenderte er ziellos die Union Street entlang.
Gegen Ende des Abschnitts mit den vielen Geschäften, gleich jenseits der Fillmore Street, näherte sich ihm eine alte Frau lautstark mit einer Gehhilfe. Gott, was für ein Anblick!, dachte Julius. Erst wandte er das Gesicht ab, dann drehte er sich wieder zu ihr, um eine Bestandsaufnahme zu machen. Ihre Bekleidung – mehrere Schichten Pullover, gekrönt von einem Noppenmantel – war absurd für den sonnigen Tag. Ihre Hamsterbacken mahlten angestrengt, zweifellos, um ein Gebiss im
Zaum zu halten. Am allerschlimmsten aber war die riesige Wucherung aus Fleisch, die einen ihrer Nasenflügel schmückte – eine halb durchsichtige rosa Warze von der Größe einer Weintraube, aus der mehrere lange Borsten sprossen.
Blöde alte Tante, war Julius’ nächster Gedanke, den er sofort korrigierte: »Sie ist wahrscheinlich nicht älter als ich. Eigentlich ist sie sogar meine Zukunft – Warze, Gehhilfe, Rollstuhl.« Als sie näher kam, hörte er sie brabbeln: »Also, mal sehn, was da vorn in den Läden rumliegt. Was es wohl ist? Was werde ich finden?«
»Lady, ich habe keine Ahnung, ich gehe hier bloß spazieren«, rief Julius ihr zu.
»Hab nich’ mit Ihn’ geredet.«
»Ich sehe hier sonst niemanden.«
»Heißt trotzdem nich’, dass ich mit Ihn’ rede.«
»Mit wem denn dann?« Julius beschirmte seine Augen mit den Händen und tat so, als würde er die leere Straße auf und ab blicken.
»Was geht Sie das an? Verdammter Penner«, murmelte sie, während sie ihre Gehhilfe klappernd an ihm vorbeischob.
Julius erstarrte einen Moment. Er schaute sich um, um sich zu vergewissern, dass keiner diese Interaktion beobachtet hatte. Mein Gott, dachte er, ich drehe durch – was zum Teufel mache ich? Gut, dass ich heute Nachmittag keine Patienten habe. Kein Zweifel: Ein Zusammentreffen mit Philip Slate ist schlecht für meine Verfassung.
Als er sich umdrehte und ihm der berauschende Duft von Starbucks entgegenströmte, kam Julius zu dem Schluss, dass eine Stunde mit Philip nach dem Luxus eines doppelten Espresso verlangte. Er ließ sich auf einem Fensterplatz nieder und betrachtete das Schauspiel um sich herum. Keine grauen Köpfe waren zu sehen, weder drinnen noch draußen. Mit fünfundsechzig war er der Älteste hier, der Älteste unter den Alten, und wurde innerlich im rasanten Tempo immer noch älter, während sein Melanom seine lautlose Invasion fortsetzte.
Zwei kesse Verkäuferinnen flirteten mit
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