Die Schopenhauer-Kur
männlichen Kunden. Dies waren die Mädchen, die ihn weder angeschaut noch mit ihm geflirtet hatten, als er jung war, und ihm auch jetzt, im Alter, keinen Blick gönnten. Er musste endlich einsehen, dass seine Zeit niemals kommen würde, dass diese heiratsfähigen, vollbusigen Mädchen mit den Schneewittchengesichtern sich ihm nie mit einem gezierten Lächeln zuwenden und sagen würden: »Hey, hab Sie ja lange nicht mehr gesehen. Wie geht’s denn?« Es würde nicht geschehen. Das Leben verlief streng linear und war nicht umkehrbar.
Genug. Genug Selbstmitleid. Er wusste, was er solchen Jammerlappen zu sagen hatte: Such nach einer Möglichkeit, deinen Blick nach draußen zu richten, dich von dir selbst zu lösen. Ja, das war es – einen Weg finden, diese Scheiße in Gold zu verwandeln. Wieso nicht darüber schreiben? Vielleicht in Form eines Tagebuchs oder Blogs. Dann etwas allgemein Sichtbareres – wer weiß? –, eventuell einen Artikel für das Journal of the American Psychiatric Association, »Der mit seiner Sterblichkeit konfrontierte Psychiater«. Oder vielleicht etwas Kommerzielles für das Sunday Times Magazine. Er sollte es einfach tun. Oder warum kein Buch? Etwas wie Autobiografie eines Hinscheidens. Nicht schlecht! Manchmal schreibt sich, wenn man einen brisanten Titel hat, der Text wie von selbst. Julius bestellte einen Espresso, holte seinen Stift hervor und entfaltete eine Papiertüte, die auf dem Boden lag. Als er zu kritzeln begann, kräuselten sich seine Lippen zu einem leichten Lächeln angesichts der bescheidenen Anfänge seines machtvollen Werkes.
Freitag, 2. November, 16 Tage nach dem Todesurteil
Kein Zweifel: Philip Slate aufzusuchen, war dumm von mir. Es war dumm von mir zu glauben, ich würde etwas von ihm bekommen. Dumm, mich mit ihm zu treffen. Nie wieder. Philip Therapeut? Unglaublich – ein Therapeut ohne Empathie, Sensibilität, Fürsorglichkeit. Er hat mich am Telefon sagen hören,
dass ich gesundheitliche Probleme habe und dass diese Probleme zum Teil der Grund dafür seien, dass ich ihn sehen wolle. Trotzdem keine persönliche Frage nach meinem Wohlergehen. Nicht einmal ein Händeschütteln. Gefühlskalt. Unmenschlich. Hielt drei Meter Abstand zu mir. Für den Kerl habe ich drei Jahre lang wie ein Blöder gearbeitet. Ihm alles gegeben. Ihm mein Bestes gegeben. Undankbarer Mistkerl.
Oh ja, ich weiß, was er sagen würde. Ich kann seine geisterhafte, pedantische Stimme hören: »Das zwischen Ihnen und mir war eine kommerzielle Transaktion: Ich habe Ihnen Geld gezahlt, und Sie haben Ihre fachmännischen Dienste geleistet. Ich habe für jede Ihrer Beratungsstunden prompt bezahlt. Transaktion vorbei. Wir sind quitt; ich schulde Ihnen nichts.«
Dann würde er hinzufügen: »Weniger als nichts, Dr. Hertzfeld; Sie waren der Gewinner bei unserem Geschäft. Sie haben Ihr volles Honorar erhalten, während ich dafür nichts von Wert erhalten habe.«
Das Schlimmste ist, dass er Recht hat. Er schuldet mir nichts. Ich protze damit, dass die Psychotherapie ein Leben im Dienste anderer ist. Eine Dienstleistung, die voller Liebe erbracht wird. Er steht nicht in meiner Schuld. Warum dann etwas von ihm erwarten? Und was immer ich mir ersehne, er kann es mir sowieso nicht geben, weil er es nicht hat.
»Er kann es nicht geben, weil er es nicht hat« – wie oft habe ich das zu wie vielen Patienten gesagt? – über Ehemänner oder Ehefrauen oder Väter. Dennoch kann ich nicht von Philip lassen, diesem unnachgiebigen, gefühllosen, knauserigen Mann. Soll ich eine Ode über die Verpflichtung schreiben, die Patienten ihren Therapeuten gegenüber in späteren Jahren haben?
Und warum spielt es eine so große Rolle? Und warum habe ich mir für einen Kontakt von all meinen Patienten Philip ausgesucht? Ich weiß es immer noch nicht. Ich fand einen Hinweis in meinen Fallnotizen – das Gefühl, dass ich mit einer jungen Version meiner selbst redete. Vielleicht ist mehr als nur eine Spur von Philip in mir, in dem Ich, das als Teenager und in
seinen Zwanzigern und Dreißigern von Hormonen gegeißelt wurde. Ich dachte, ich wüsste, was er durchmachte; ich dachte, ich hätte ein inneres Gespür, mit dem ich ihn heilen könnte. Habe ich mir deshalb solche Mühe gegeben? Habe ich ihm deshalb mehr Aufmerksamkeit und Energie zuteil werden lassen als den meisten meiner anderen Patienten? In jeder therapeutischen Praxis findet sich immer ein Patient, dem der Therapeut unverhältnismäßig viel Energie und
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