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Die Schopenhauer-Kur

Die Schopenhauer-Kur

Titel: Die Schopenhauer-Kur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Irvin D. Yalom
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Aufmerksamkeit schenkt – für mich war das drei Jahre lang Philip.
     
    An diesem Abend kehrte Julius in ein kaltes, dunkles Haus zurück. Sein Sohn Larry hatte die letzten drei Tage mit ihm verbracht, heute Morgen aber die Heimreise nach Baltimore angetreten, wo er sich an der Johns Hopkins der neurobiologischen Forschung widmete. Julius war beinahe erleichtert darüber, dass Larry fort war – sein gequälter Gesichtsausdruck und seine liebevollen, doch unbeholfenen Versuche, den Vater zu trösten, hatten ihn eher bekümmert als beruhigt. Er dachte daran, Marty anzurufen, einen Kollegen aus der Selbsthilfegruppe, fühlte sich aber zu verzagt, legte den Hörer wieder auf und schaltete stattdessen seinen Computer an, um die Notizen einzugeben, die er auf die zerknitterte Starbucks-Tüte gekritzelt hatte. »Du hast Post«, wurde er begrüßt, und zu seiner Überraschung fand er eine Nachricht von Philip. Er las sie gespannt:
     
    Am Ende unseres heutigen Gesprächs fragten Sie mich nach Schopenhauer und danach, wie mir seine Philosophie geholfen hat. Sie deuteten an, dass Sie gern mehr über ihn erfahren würden. Daher interessiert Sie vielleicht meine Vorlesung am Coastal College am Montagabend um 19 Uhr (Toyon Hall, 340 Fulton St.). Ich halte einen Einführungskurs über europäische Philosophie und werde nächsten Montag einen kurzen Überblick über Schopenhauer geben (ich muss in zwölf Wochen zweitausend Jahre abhandeln). Vielleicht können wir danach ein wenig plaudern. Philip Slate.

    Ohne zu zögern, antwortete Julius: Danke. Ich werde kommen. Er schlug seinen Terminkalender beim nächsten Montag auf und trug »Toyon Hall, 340 Fulton, 19 Uhr« ein.

    Montags leitete Julius von halb fünf bis sechs eine Gruppentherapie. Er hatte überlegt, ob er der Gruppe von seiner Diagnose erzählen sollte. Seinen Einzelpatienten wollte er zwar erst davon berichten, wenn er sein Gleichgewicht wiedergewonnen hatte, aber die Gruppe stellte ein anderes Problem dar: Ihre Mitglieder konzentrierten sich oft gerade auf ihn, und die Gefahr, dass jemand eine Stimmungsveränderung bei ihm bemerkte und sie kommentierte, war wesentlich größer.
    Doch seine Sorge war unbegründet. Die Gruppenmitglieder akzeptierten bereitwillig seine Entschuldigung, er habe die letzten beiden Zusammenkünfte wegen einer Grippe absagen müssen, und gingen dann rasch dazu über, die vergangenen zwei Wochen ihres Lebens zu besprechen. Stuart, ein kleiner, untersetzter Kinderarzt, der immer zerstreut wirkte, so als wäre er in Eile, zu seinem nächsten Patienten zu stürzen, schien bedrückt und bat die Gruppe um Redezeit. Dies war höchst ungewöhnlich; in seinem Jahr in der Gruppe hatte Stuart selten um Hilfe gebeten. Ursprünglich war er ihr unter Zwang beigetreten: Seine Frau hatte ihn per Email informiert, dass sie ihn verlassen würde, sollte er nicht eine Therapie beginnen und sich grundlegend verändern. Sie hatte hinzugefügt, dass sie ihm dies per Email mitteile, weil ihm elektronische Kommunikation wichtiger sei als alles, was man ihm direkt sage. In der letzten Woche hatte sie die Sache auf die Spitze getrieben, indem sie aus dem gemeinsamen Schlafzimmer ausgezogen war, und ein Großteil des Treffens verging damit, dass die Gruppe Stuart half, sich über seine Gefühle hinsichtlich ihres Rückzugs klar zu werden.
    Julius liebte diese Gruppe. Oft verschlug ihm der Mut ihrer Mitglieder den Atem; sie erschlossen regelmäßig Neuland und
gingen große Risiken ein. Die heutige Zusammenkunft war keine Ausnahme. Alle unterstützten Stuart in seiner Bereitschaft, seine Verletzlichkeit zu zeigen, und die Zeit raste nur so dahin. Am Ende der Sitzung ging es Julius viel besser. Die Dramatik der letzten anderthalb Stunden hatte ihn so gefangen genommen, dass er seine eigene Verzweiflung vergessen hatte. Das war nicht ungewöhnlich. Jeder Gruppentherapeut kennt die wunderbar heilsamen Kräfte, die der Atmosphäre einer an sich arbeitenden Gruppe eigen sind. Es war immer wieder vorgekommen, dass Julius beunruhigt zu einem Treffen gegangen war und es getröstet wieder verlassen hatte, obwohl er natürlich nie eines seiner persönlichen Probleme explizit ansprach.
    Er hatte kaum Zeit für ein rasches Abendessen im We Be Sushi, das in der Nähe seiner Praxis lag. Er war Stammgast dort und wurde von Mark, dem Küchenchef der Sushi-Bar, lautstark begrüßt, als er Platz nahm. Wenn er allein war, saß er immer lieber an der Theke – wie seine Patienten auch

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