Die Schopenhauer-Kur
fühlte er sich unwohl, wenn er ganz für sich allein an einem Restauranttisch saß.
Julius bestellte das Übliche: California rolls, gegrillten Aal und eine Auswahl vegetarischer Maki. Er liebte Sushi, hütete sich wegen seiner Angst vor Parasiten jedoch vor rohem Fisch. Der ganze Kampf gegen Einbrecher von außen – wie lächerlich der jetzt schien! Was für eine Ironie des Schicksals, dass das Ding zu guter Letzt von Insidern gedreht werden würde. Zum Teufel damit; Julius schlug alle Vorsicht in den Wind und änderte seine Bestellung bei dem erstaunten Küchenchef in Sashimi um. Er aß mit großem Genuss, ehe er in aller Eile zur Toyon Hall und seiner ersten Begegnung mit Arthur Schopenhauer aufbrach.
»So bildet sich demnach schon in den Kinderjahren die feste
Grundlage unserer Weltansicht, mithin auch das Flache oder
Tiefe derselben: sie wird später ausgeführt und vollendet;
jedoch nicht im wesentlichen verändert.« Ref 6
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Bei Mama und Papa Schopenhauer zu Hause
Was für ein Mann war Heinrich Schopenhauer? Zäh, streng, mürrisch, gehemmt, unnachgiebig, stolz. Man erzählt sich die Geschichte, dass die Preußen 1783, fünf Jahre vor Arthurs Geburt, eine Blockade über Danzig verhängten und die Nahrung für Mensch und Tier knapp wurde. Die Familie Schopenhauer war gezwungen, einem feindlichen General auf ihrem Anwesen Quartier zu gewähren. Als Belohnung bot der preußische Offizier Heinrich Futter für seine Pferde an. Heinrichs Antwort? »Mein Stall ist wohl gefüllt, mein Herr, und wenn die Vorräte zur Neige gehn, werde ich meine Pferde schlachten.«
Und Arthurs Mutter Johanna? Romantisch, schön, fantasievoll, lebhaft, kokett. Obgleich ihre Hochzeit 1787 für ganz Danzig ein glanzvolles Ereignis war, sollte sie sich als tragischer Irrtum erweisen. Die Trosiners, Johannas Familie, stammten aus bescheidenen Verhältnissen und hatten die hochmütigen Schopenhauers seit langem mit Ehrfurcht betrachtet. Als Heinrich im Alter von achtunddreißig kam und um die siebzehnjährige Johanna warb, waren sie daher überglücklich, und Johanna fügte sich dem Wunsch ihrer Eltern.
Hat Johanna ihre Heirat als Fehler betrachtet? Man lese ihre
Jahre später geschriebenen Worte, mit denen sie andere junge Frauen warnte, die vor der Entscheidung standen, eine Ehe einzugehen: »Glanz, Rang und Titel üben eine gar zu verführerische Gewalt über ein junges, verwöhntes, argloses Mädchenherz, sie verlockten die Unerfahrene, ein Eheband zu knüpfen; ein Mißgriff, für den sie lebenslänglich aufs härteste büßen mußten . . .« Ref 7
»Für den sie lebenslänglich aufs härteste büßen mußten« – starke Worte von Arthurs Mutter. Ihren Tagebüchern vertraute sie an, dass sie, bevor Heinrich um sie warb, eine Jugendliebe gehabt hatte, die das Schicksal ihr entriss, und sie Heinrich Schopenhauers Antrag in einem Zustand der Resignation angenommen hatte. Blieb ihr eine andere Wahl? Höchstwahrscheinlich nicht. Diese typische Vernunftheirat des 18. Jahrhunderts wurde von ihrer Familie aus Besitz- und Statusgründen arrangiert. War Liebe im Spiel? Zwischen Heinrich und Johanna Schopenhauer war von Liebe keine Rede. Niemals. Später schrieb sie in ihren Memoiren: »Glühende Liebe heuchelte ich ihm ebenso wenig, als er Anspruch darauf machte.« Auch herrschte keine große Liebe für andere Mitglieder des Haushalts – weder für den kleinen Arthur Schopenhauer noch für seine neun Jahre jüngere Schwester. Ref 8
Liebe zwischen Eltern erzeugt Liebe zu den Kindern. Gelegentlich hört man von Eltern, deren große Liebe zueinander jede andere Liebe in der Familie erstickt, sodass für die Kinder nur noch Reste übrig sind. Aber dieses ökonomische Nullsummenkonzept von Liebe ergibt wenig Sinn. Das Gegenteil scheint wahr: Je mehr jemand liebt, desto mehr reagiert er auf Kinder, auf alle anderen, liebevoll.
Arthurs lieblose Kindheit hatte schwer wiegende Folgen für seine Zukunft. Kinder, die ihrer Mutter nicht in Liebe verbunden sind, können das Grundvertrauen nicht entwickeln, das nötig ist, um sich selbst zu lieben, um zu glauben, dass andere sie lieben, oder um das Leben zu lieben. Als Erwachsene sind
sie sich selbst entfremdet, ziehen sich zurück und haben oft konfliktreiche Beziehungen. So sah die psychologische Landschaft aus, die Arthurs Weltbild schließlich formen sollte.
»Wie töricht, zu bedauern und zu beklagen,
daß man in vergangener Zeit die Gelegenheit
zu diesem oder jenem Glück oder Genuß
hat
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