Die Schopenhauer-Kur
unbenutzt gelassen!
Was hätte man denn jetzt mehr daran? –
die dürre Mumie einer Erinnerung.« Ref 9
7
Um fünf vor sieben klopfte Julius die Asche aus seiner Meerschaumpfeife und betrat das Auditorium der Toyon Hall. Er nahm seitlich in der fünften Reihe Platz und schaute sich in dem Amphitheater um. Zwanzig Reihen stiegen steil von der Eingangsebene an, wo das Vortragspult stand. Die meisten der zweihundert Sitze waren leer, rund dreißig waren kaputt und mit gelbem Plastikband umwickelt. Zwei obdachlose Männer hatten es sich mitsamt ihrer Zeitungssammlungen in der letzten Reihe bequem gemacht. Ungefähr dreißig Plätze waren von ungepflegten Studenten besetzt, die sich willkürlich auf das Auditorium verteilten mit Ausnahme der ersten drei Reihen, die leer waren.
Genau wie in einer Therapiegruppe, dachte Julius, wo auch keiner in der Nähe des Leiters sitzen will. Selbst bei seinem heutigen Gruppentreffen waren die Plätze beidseits von ihm für die zu spät Kommenden frei geblieben, und er hatte gescherzt, ein Platz neben ihm sei wohl die Strafe für Unpünktlichkeit. Julius dachte an die Theorie über die Sitzordnung bei einer Gruppentherapie: die abhängigste Person sitzt rechts vom Leiter, während die paranoidesten Mitglieder ihm direkt
gegenübersitzen; aber nach seiner Erfahrung war die Abneigung dagegen, neben dem Leiter Platz zu nehmen, das Einzige, worauf sich regelmäßig zählen ließ.
Die Schäbigkeit und Baufälligkeit der Toyon Hall waren typisch für den gesamten Campus des California Coastal College, das als Abend-Handelsschule entstanden, anschließend expandiert war und kurz als Zwei-Jahres-College floriert hatte und sich inzwischen offensichtlich in einer Phase des Verfalls befand. Auf seinem Weg durch die unappetitlichen Slums des Bezirks Tenderloin war es ihm schwer gefallen, verwahrlost wirkende Studenten von den Obdachlosen des Viertels zu unterscheiden. Welcher Dozent würde sich durch diese Umgebung nicht entmutigen lassen? Julius verstand allmählich, warum Philip zur klinischen Arbeit überwechseln wollte.
Er schaute auf die Uhr. Punkt sieben, und wie gerufen betrat Philip das Auditorium, gekleidet in der üblichen Professorentracht, nämlich Khakihose, Hemd und braunes Kordjackett mit Ellbogenflicken. Er holte seine Vorlesungsnotizen aus einer schön zerschrammten Aktentasche und begann, ohne seinem Publikum auch nur einen Blick zuzuwerfen:
»Dies ist ein Überblick – Vorlesung achtzehn – über die Philosophie von Arthur Schopenhauer. Ich werde heute anders vorgehen als sonst und mich auf indirekterem Wege an meine Beute anschleichen. Falls ich inkohärent klinge, bitte ich Sie um Toleranz – ich verspreche, dass ich in Kürze auf das eigentliche Thema zurückkommen werde. Fangen wir damit an, dass wir unsere Aufmerksamkeit auf die großen Debüts in der Geschichte lenken.«
Philip suchte sein Publikum nach einem verständnisvollen Nicken ab, reckte, da er keines fand, seinen Zeigefinger einem der Studenten entgegen, die ihm am nächsten saßen, und deutete auf die Tafel. Dann buchstabierte und definierte er drei
Wörter, i-n-k-o-h-ä-r-e-n-t, T-o-l-e-r-a-n-z und D-e-b-ü-t, die der Student gehorsam an die Tafel schrieb. Danach wollte er zu seinem Platz zurückkehren, doch Philip wies ihm einen Sitz in der ersten Reihe zu.
»Was nun große Debüts angeht; vertrauen Sie mir – der Grund dafür, dass ich damit beginne, wird sich beizeiten offenbaren. Stellen Sie sich Mozart vor, wie er den Wiener Kaiserhof im Alter von neun Jahren verblüfft, indem er fehlerlos Cembalo spielt. Oder, falls Mozart keine Saite in Ihnen erklingen lässt ( hier die ganz schwache Spur eines Lächelns ), stellen Sie sich etwas vor, das Ihnen vertrauter ist, etwa die Beatles, die ihren Liverpooler Zuhörern mit neunzehn eigene Kompositionen vortragen.
Zu weiteren erstaunlichen und außerordentlichen Debüts gehört dasjenige von Johann Fichte. ( Hier ein Signal an den Studenten, F-i-c-h-t-e an die Tafel zu schreiben.) Erinnert sich jemand von Ihnen an seinen Namen aus meiner letzten Vorlesung, in der ich die großen deutschen Philosophen des Idealismus erörtert habe, Hegel, Schelling und Fichte, die im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert auf Kant folgten? Von ihnen sind Fichtes Werdegang und Debüt am bemerkenswertesten, weil er sein Leben als armer, ungebildeter Gänsehirt in Rammenau begann, einem kleinen Dorf, das lediglich wegen der inspirierten Sonntagspredigten seines Pfarrers
Weitere Kostenlose Bücher